Touren in Deutschland

Himmelhorn (2111m), Rädlergrat

Im extremen Gras

27.08.2020

Mal kurz überlegen. Was macht denn eigentlich eine schöne und begehrte Alpinkletterroute aus? Festes, zuverlässiges Gestein?! Viele Klettermeter im Verhältnis zum Gesamtanstieg?! Vielleicht auch eine gute Absicherung oder zumindest Absicherbarkeit?! Jedenfalls bloß keine Botanik dazwischen!

Der Himmelhorn Südwestgrat, auch Rädlergrat oder kurz „der Rädler“ genannt – er hat nichts davon!

Und trotzdem wird er in Kennerkreisen mindestens so hoch gehandelt wie gefürchtet. Ein alpinistisches Paradoxon. Doch wie kommt es, dass eine solche Tour sogar im legendären Pause (Im extremen Fels) seinen Platz findet und selbst einer Kletterlegende wie Gaston Rébuffat Respekt einflößte?

Beigetragen zu diesem Nimbus hat mit Sicherheit die Erstbegehungsgeschichte, als der namensgebende Lehrer Hermann Rädler im Jahre 1910 im Alleingang zu seiner aberwitzigen Wahnsinnstat antrat. Eintrag Wikipedia: „Seine Route führte im letzten, oberen Teil durch eine äußerst unzuverlässige, mürbe Gras- und Felswand…“. Heißt übersetzt: Der Mann ging mangels Sicherungsmöglichkeiten- und Alternativen durch senkrecht-grasigen Schrott! Nach überstandenem Durchstieg war er (vermutlich) so traumatisiert, dass er erst vier Jahre später jemandem davon erzählte. Was trieb ihn in diesen Schlamassel eigentlich hinein? Man kann nur spekulieren. Vielleicht war es ja einfach nur die Neugierde nach der Frage, ob diese scharf geschnittene Linie überhaupt kletterbar ist.

Weiter Wikipedia: „Aufgrund der Kombination von brüchigen Felspassagen mit sehr steilen Grasflanken (wie bei der Höfats) ist der Rädlergrat auch für sehr gute Kletterer eine Herausforderung. Heutzutage wird der Rädlergrat im Durchschnitt zwei- bis dreimal pro Jahr begangen.“

Bei Touren durch steilstes Schrofengelände haben wir uns in der Vergangenheit oft scherzhaft in einem Anflug aus Galgenhumor gegenseitig den Rädler-Passierschein ausgestellt. Im September war es dann soweit – wir bliesen zum Himmel(horn)-Fahrtskommando:

Nach zwei trockenen Tagen und mit einer perfekten Wetterprognose im Rücken konnten wir der Verlockung nicht mehr widerstehen und gingen dem Mythos auf den Grund.  

Unsere Strategie:

  • Start nicht zu früh, um nasse Steilgrashänge zu vermeiden
  • Zustieg bis Stuibenfall per Bike erspart langes Gelatsche und macht den Weg zurück zum Auto zur puren Freud
  • Als Backup: Alpinhammer + Eistool. Auf Steigeisen verzichteten wir
  • Schuhwerk: Bergstiefel für Steilgras + Göckelesgrat, Kletterfinken für die Headwall

Die erste Herausforderung – sich beim Wildcampen in Oberstdorf nicht erwischen zu lassen – hatten wir morgens schon einmal gemeistert, als wir Simons Bus am Wanderparkplatz unterhalb der Skisprungschanze parkten. Vorbildlich noch vom Parkticket-Automaten abzocken lassen (Karmaausgleich) und los ging’s.

Rädlergrat über uns im Profil

Per Radl zum Rädler. Gleich auf die ersten Meter schnellt der Puls in die Höhe, beruhigt sich in den flachen Alleen des Oytals wieder, um dann auf den steilen Serpentinen hoch zum Stuibenfall wieder exponentiell in die Höhe zu schießen. Die Räder verstecken wir auf dem Weg zum Geisbachtobel, überqueren diesen und kurz darauf stehen wir auch schon in der senkrechten Blumenwiese.

Saftig & steil

Naja…nicht ganz senkrecht, aber eben fast. Glücklicherweise lässt die Botanik wie Rapunzel das Haar herunter in Form von saftigstem Gras beachtlicher Länge. Herzhaft zupacken und hochrampfen. Man meint es kaum – aber macht sogar richtig Spass.

unten – der Geisbachtobel

Eine nun wirklich senkrechte Felsstufe überklettern wir, wie soll es auch anders sein, mit netter Unterstützung der Flora – dieses Mal hilft ein solider Haselnussbaum mit henkelartigem Wurzelwerk.

Man kann die Steilheit ungefähr erahnen
Gaudi im vertikalen Wald
Oben sieht man schon den felsigen Göckelesgrat

So kommen wir schnell voran und müssen über die bizarre Fortbewegungsart immer wieder lachen. Passend dazu gibt’s zum Frühstück auch keine Riegel, sondern ein Büschel Gras.

Mahlzeit! Durchbeißen! Auf Höhe des letzten Bildviertels oben, da wo der Grasrücken ansteilt, findet man den ersten Stand (Grasanker)

Ach ja die Flora – dieser Tour habe ich meine tatsächlich erste Sichtung eines Edelweißes zu verdanken. Diese recht seltene Pflanze, das Zeichen des Alpenvereins, steht hier oben an den Steilhängen nicht bloß vereinzelt rum, nein – man klettert geradezu durch ganze Wiesen von dem zierlichen Zeugs.

Kurz vor dem ersten Grasanker-Standplatz

Bestens vorbereitet erkennen wir nach einer etwas weniger steilen Passage des Grasrückens vor uns den ersten Steilaufschwung an dessen Anfang sich der einzige Grasanker der Tour versteckt. Dort angekommen packen wir das Seil aus. Der Pickel bleibt an diesem Tag am Rucksack bzw. Gurt.

Simon in der ersten SL

Vom Standplatz weg sucht man sich den einfachsten Weg – eine Art flache Rinne hinauf, an deren felsigem Ende sich ein weiterer Standplatz befindet (Schlinge an Schlaghaken + Strauch). Sehr ausgesetzt schwingt man sich vom Standplatz in einer rechts-links-Bewegung ums Eck empor, geradeaus hoch dem Göckelesgrat entgegen.

Zweiter Standplatz. Schlaghakentest bestanden
Vom Stand weg ums Eck und weiter geradeaus hoch
Seil wieder weggepackt. Vor uns beginnt die grasige Felskletterei am Göckelesgrat
Durch die markante Rampe über Simons Kopf geht es zurück auf den Grat. Dort beginnt die Göckelesgrat-Kletterei

Der Felsgrat wird erreicht, indem man zunächst rechts davon quert und diesen im Anschluss links hinauf in einer Steilgrasrampe, am Rande der Felsen entlang, wiedergewinnt (Bild oben und unten).

Unmittelbar vor dem ersten Grat-Standplatz

Dort Stand an Schlaghaken. Generell schadet bei den meisten Schlaghaken eine gewisse Portion Misstrauen (+Galgenhumor) nicht. Daher besser wo es nur geht nachbessern oder mit dem Hammer kontrollieren. Uns kam auch gleich am Grat beim Draufhauen einer entgegen. Um den müsst ihr euch schonmal nicht mehr kümmern. Den hätte allein der Wind vermutlich schon fast rausgeblasen.

Vorsichtig, wie die Mutter der Porzellankiste kraxeln wir mit Samtpfoten über den extrem luftigen Kamm. Die Ausgesetztheit wird eigentlich nur von der Brüchigkeit überboten. Jeder, wirklich jeder Griff sollte vor dem Belasten geprüft werden. Mit dieser Technik und der dazugehörigen Ladung Adrenalin kann durchaus auch Freude aufkommen. Bei uns jedenfalls war es so.

Eine der fotogensten und ausgesetztesten Stellen. Da machen wir gleich eine Fotosession draus. So oft kommen wir hier vermutlich nicht mehr hin

Makaber ist übrigens die Tatsache, dass auf der Tour die einzigen 100% verlässlichen Sicherungspunkte die Gedenkkreuze der zu Tode gestürzten Bergsteiger darstellen! So auch das Kreuz dreier Brüder aus Oberstdorf direkt unterhalb der Headwall.

Wir wechseln das Schuhwerk und freuen uns auf den Fels, über den man liest, er sei gar nicht so schlecht. Und tatsächlich – bis auf die erste noch stellenweise leicht brüchige Seillänge (1 Schlaghaken). Stand auf einem Band.

Die 1. SL der Headwall: rechts vom brüchigen Grat in die Wand (1 Schlaghaken) und schräg nach links kletternd wieder zurück auf das sichtbare Grasband
Am Stand auf dem Band

Nun folgt die Schlüsselseillänge. Ein Sechserle über einen kleinen Überhang. Hat man den richtigen Griff in der Hand geht’s easy. Dahinter wird nach rechts gequert zum nächsten Stand mit Wandbuch.

Bereits hinter der Schlüsselstelle…hier wird’s deutlich leichter

Darin hat sich eine erlesene Anzahl von so mancher Bekanntheit verewigt. Der Wikipediabeitrag sollte aber trotzdem korrigiert werden – doch bissl mehr los hier oben.

Beim Wandbuch, am Stand nach der 1. SL

Felskletterseillänge #3 wartet auf mit einer nett zu kletternden Verschneidung mit luftigem Rechtsausstieg und anschließendem Steilschrofen bis zum nächsten Gedenkkreuz. Am besten dort Stand machen, dann ist allerdings ein 60m-Seil erforderlich.

Am Gedenkkreuz oberhalb der Headwall.

Könnte es einen passenderen Abschluss zu dieser Tour geben als Steilgras bis zum Gipfelkreuz? Also wieder in die Bergstiefel und dem Edelweiß ausweichend hochwatscheln. Jetzt erstmal den Moment und die gelungene Tour feiern!

Cheers Hermann… du Teufelskerl!

Die Tour ist am Himmelhorn allerdings noch lange nicht zu Ende. Wir wählen den Weiterweg hoch zum Schneck anstelle der schrofigen Querung nach rechts zum Normalweg. Ein letztes Mal ist volle Konzentration im Steilgras gefragt bis am Gipfel der Schneck der Wanderweg erreicht ist.

Der obere Teil vom Rädlergrat im Profil, beim Abstieg vom Schneck Normalweg

Sehr empfehlenswert ist nun die Einkehr in alle möglichen Almen und Berggasthöfe im Abstieg. Trinkt man bei jedem Stopp ein Bierchen lässt sich die Tour perfekt revue passieren. Auf der ersten Alm gab‘s leider bloß frische Milch…aber egal – war auch gut.

Die restlichen Hütten haben wir dann aber reich beschenkt. Gegenleistung war eine leicht angeschwippste Abfahrt mit dem Rad durchs Oytal – mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht.

Das vollbrachte Werk noch einmal in voller Pracht

Und weil der Rädler nur zählt, wenn man ihn ohne Eiskletterausrüstung gemacht hat, haben wir den Rädler nun in der Tasche!

Eine großartige, da sehr spezielle Tour mit extrem hohem Abenteuerfaktor und nach unserem Empfinden beherrschbaren Gefahren. Wie sich Hermann Rädler damals durch die grauenhaft ausschauende, senkrechte Schrofenlandschaft links des heutigen Ausstieges gezittert haben muss, will man sich kaum vorstellen. Da kann man nur kopfschüttelnd den Hut ziehen. Wir genossen jedenfalls die zwar klettertechnisch anspruchsvollere Headwall, die aber dafür hübsche Kletterei an verhältnismäßig kompaktem Fels, bei guter Absicherung (Schlaghaken + mobil bei Bedarf) bietet. Ein Akt in drei Teilen also: Steilgras bis 70°, sehr ausgesetzter, brüchiger, grasdurchsetzter Felsgrat und drei Seillängen in solidem Fels. Das Alles hoch über einem Bilderbuch-Tal, umgeben von einer faszinierenden Pflanzenwelt, mit Premium- Ausblick zur Höfats – dem Wahrzeichen des Allgäus.

Das Fazit der Tour – schön auf den Punkt gebracht von einem Unbekannten…auf der ersten Seite des Wandbuchs:

Steckbrief Himmelhorn, Rädlergrat

  • Schwierigkeit: Steilgras bis 70°, VI (eine Seillänge in der Headwall), ansonsten oftmals IV – V, am Göckelesgrat auch leichter, dafür brüchig
  • Absicherung: Kein einziger Bohrhaken. Gesichert wird an tw. maroden Schlaghaken die erst gefunden werden müssen. Eigeninitiative und ein gutes Auge sind gefragt. Sicherungsmöglichkeit an Gedenkkreuz unterhalb+oberhalb der Headwall
  • Hoch / runter: Zustieg bis Stuibenfall 450hm, Grat 1000hm, Gesamt 1450hm

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