03.-04.09.2022
Die lohnendste Klettertraverse der Silvretta
Marius und ich waren heiß auf eine Hochtour oder zumindest irgendeine Himmelsleiter. So richtig prickelnd war das Bergwetter blöderweise nicht gemeldet für dieses Wochenende. Der Startschuss in einen verregneten Herbst brachte einen nassen Samstag und immerhin ein stabiles Zeitfenster für den Sonntag. Schon seit längerem hatte ich die Traverse am Seehorn auf dem Zettel. Verhältnismäßig kurze Anreise, griffiges Urgestein, tolle Hochgebirgskulisse und nicht zuletzt, so wie man liest, die schönste Gratkletterei der Silvretta. Genügend Gründe, um den Schönwettertag zu nutzen.
Der Zufall half mit den zwei letzten buchbaren Betten auf der Saarbrücker Hütte auch noch nach und so tuckerten wir am Samstagnachmittag durch Vollsperrungen und Platzregen über Alb, Allgäu, Montafon zur Silvretta-Hochalpenstraße.
Am Mauthäuschen dann die Überraschung: „Ah…Saarbrücker-Hütte, dann brauchen Sie nix zahlen“. – sagt der etwas verwirrte Mann und gibt uns auf 100€ bloß noch 82 zurück. Ah ja?! Egal – dafür ist die Passstraße astrein asphaltiert und der Parkplatz oben am hinteren Ende des Vermuntstausees gratis.
Laut Beschilderung sind es von hier 2,5h bis zur Hütte. In der Zeit kann man schon ordentlich nass werden. Die Wolken hängen tief, es nieselt leicht. Wir geben Gas. Bald fängt es wie vorhergesagt an zu regnen. Nass werden können wir aber eh nicht mehr, weil wir schon klatschnass geschwitzt sind. Sichtweite 20m. Windstille. Überall läuft Wasser den Berg hinunter. Wir sind seit 75min unterwegs und, als wären wir hochgeflogen, tauchen plötzlich die Umrisse der 1911 erbauten, urigen Hütte vor uns im Hochnebel auf. Seltsame Zeitangaben. Uns solls recht sein.
Die nassen Klamotten werden in den Trockenraum gehängt und ab geht’s in den gemütlichen Gastraum zum Abendessen. Dort lassen wir uns nach allen Regeln der Kochkunst von dem supernetten Hüttenteam in drei Gängen verköstigen, trinken uns durch das Bierangebot und eröffnen die Wintersaison mit einem Jagertee-Bastelset.
Die Tische sind gut belegt, die Stimmung ausgelassen. Auf unser Equipment angesprochen erzählt uns die Bedienung, dass wir die einzigen Aspiranten für die Überschreitung sind. Fast alle Gäste, darunter viele Familien mit Kindern, sind zum Genusswandern oder Hüttenhopping hier oben.
Generell ist die Silvretta ein wunderschönes, einfach zugängliches Hochgebirge mit vielen Seen, Wasserfällen, Gletschern und Gipfeln bis 3400m.
Noch während wir das letzte Schlummerbier verhaften, reißt draußen die Wolkendecke auf. Das gute Wetter kündigt sich an. Zum ersten Mal sieht man bei mystischer Sonnenuntergangsstimmung die umliegende Landschaft und die gesamte morgige Tour im Profil. Die Vorfreude steigt!
Mit einem netten holländischen Paar teilen wir uns zu viert ganz bequem ein 8er-Zimmer. Angesprochen auf ihre ganztägige Anfahrt meinen die beiden Nachzügler bloß: „Es lohnt sich schlussendlich immer…“. Recht haben sie 😉
Mit unseren Kopflampen sitzen wir am nächsten Morgen allein im stockfinsteren Gastraum und Frühstücken. Wer lange Klettern will, muss früh aufstehen. Abmarsch: 6:30 Uhr.
Eine Stunde später stehen wir oben am Litznersattel.
Irgendwo schlängelt sich von hier links am Vorturm vorbei ein alpiner Zustieg kreuz und quer empor bis zum Grenzgrat. Wenn man genau hinschaut sieht man Steinmännchen, Wegspuren und sogar hier und da neue Klebehaken, die wir aber nicht benötigen. Je höher man steigt, umso besser wird der Gneis. Wir cruisen seilfrei durch das Gelände. Die Wegführung ist eigentlich vollkommen logisch.
Etwas unübersichtlicher wird’s bloß auf dem Abschnitt direkt unterhalb vom Grenzgrat. Dort haben wir an einer ausgesetzten Platte das Seil ausgepackt und sind an einem alten Schlaghaken + Zusatzfriend nach links in den Sattel rübergequert.
Plötzlich ist hier oben so viel los wie Samstagmorgen beim Bäcker. Aus der Schweiz kommend wird der Grat gestürmt. Vor uns fünf Kletterer, hinter uns nochmal zwei. Am laufenden Seil steigen wir die Schneide hoch bis knapp vor dem Großlitzner-Gipfelturm. Immer ein Bein in der Schweiz, das andere in Österreich. Unvermittelt ist der Grat steil unterbrochen, so dass 15m abgeseilt werden muss. Nun folgen ab der Scharte die anspruchsvollsten Längen der Tour bis hoch auf den luftigen Litznerturm. Genüsslicher und gleichzeitig ausgesetzter kann man in diesem Grad (max. IV-) kaum klettern.
Die Platte ganz oben am Turm und der anschließende Miniüberhang, sofern man direkt geradeaus hochklettert, sind die Schlüsselpassagen. In zwei langen Seillängen erreichen wir um 9:45 Uhr den Gipfel des Großlitzners. Erst ganz oben realisiert man, wie exponiert sich der schlanke Turm nach allen Seiten aus dem Grat erhebt.
Die schweizer Truppe vor uns macht sich bereits an der Abseilstelle zu schaffen. Zwei junge Mädels in Begleitung von drei Männern. Einer davon, vermutlich der Bergführer, bietet uns auch gleich den vormontierten 60m-Einzelstrang zum Abseilen an. Ganz feine Geste!
So sind wir in Rekordtempo wieder runter vom Litzner und hatten sogar genug Zeit den Schnaps schon anzutesten.
Bis hinunter zum Sattel zwischen den beiden Gipfeln muss man nur ab und an die Hände aus den Hosentaschen nehmen. Von hier unten konnte man früher einmal in Notfällen auf österreichischer Seite auf den Litznergletscher abseilen. Aktuell, ohne jede Firnauflage, schaut das Gelände eher nach Selbstmordkommando aus. Wäre auch schad um die hübschen Klettermeter hoch aufs Seehorn. Ab und zu zieht sich der Felsgrat bis auf eine schmale Schneide zusammen. Seilfreie, begeisternde Genusskletterei bis maximal III-, je nach Linie, in exponierter Lage.
Die Schweizer bleiben in unserem Windschatten, so dass wir alle gemeinsam um 10:45 Uhr, nach 4h15min, auf dem Gipfel des Großen Seehorns stehen. Ringsum fallen die Flanken steil ab, in den umliegenden Tälern funkeln türkis- bis smaragdgrüne Seen, im Südosten liegen um den Piz Buin herum die noch immer gewaltigen Gletscherplateaus der Silvretta. Auf diesen Ausblick genehmigen wir uns doch gleich noch ein Schlückchen Zirben-Likör.
Marius‘ bisher arbeitslosem Eispickel ist das Treiben dann aber zu bunt – wie von Geisterhand geschwungen fliegt er in hohem Bogen vom Rucksack und schaut sich schon einmal die Abseilpiste der Westwand genauer an. „Klong…klong…ciao“. Dort geht es ein ganzes Stück hinunter bis man auf den Seegletscher trifft. 8x bis zu 25m Abseilen. Am Gipfel lehnen die sympathischen Schweizer doch tatsächlich erneut unser reichhaltiges Feuerwasser-Sortiment ab und leihen uns stattdessen wieder ihr langes, bereits im Umlenker hängendes Seil aus. Da brech ich fast eine Lanze für die Gebirgseidgenossen.
Unverschämt schnell sind wir unten am Wandfuß und stolpern sogar auf Anhieb über den abtrünnigen Pickel, der optisch um ein paar Jahre gealtert ist. So richtig frisch schaut auch der Gletscher nicht mehr aus. Blitzeblank, massiv abgesunken und mit allerlei Schutt bedeckt. Kurz vor der Seelücke, dem Grenzsattel, gab es wohl vor nicht allzu langer Zeit einen größeren Felssturz. Dort besteht ein letztes Mal Verletzungsgefahr beim Durchsteigen der Felsblöcke, aber direkt dahinter trifft man direkt auf den gut besuchten Wanderweg.
Dort, am alten Grenzhäuschen, hocken wir uns auf einen Felsabsatz und lassen die Beine baumeln. 12:15 Uhr ist es nun. Ein guter Zeitpunkt, um sich die Kehle zu befeuchten.
In allen Belangen also eine totale Genusstour, wenn man bedenkt, dass wir eine entspannte Nacht hatten, ein solides Frühstück, bis hierhin bloß 6h Geh-/ Kletterzeit und uns dann im Abstieg auf der Saarbrücker Hütte noch so richtig den Bauch vollgeschlagen haben.
Steckbrief Großlitzner – Großes Seehorn, Überschreitung:
- Schwierigkeit: Am Litznerturm je nach Direktheit max. IV-, Rest weitestgehend I-II, Stellen III
- Absicherung: Ausreichend eingebohrt, Stände + Abseilstellen top eingerichtet, zusätzlich leicht absicherbar
- Hoch / runter: 1400hm bis Gipfel Großlitzner ab Vermuntstausee, ab Hütte nur 600hm
- Übernachtung: Saarbrücker Hütte (2538m)