18.06.2022
Nach der Nordwand ist vor der Nordwand
Überlegungen am Abend nach der Comici (Nordwand, Große Zinne): „Also morgen dann die gelbe Kante (Kleine Zinne)?“ – „Gelbe Kante morgen macht keinen Sinn – viel zu kurz die Tour. Lass den Neoklassiker Petri heil in der Nordwand Westliche Zinne machen – außerdem sind die Verhältnisse gerade ideal“ – „Wenn‘s nochmal Nordwand & Klassiker sein soll, dann ab in die furztrockene Cassin!“ – „Okay – dann Cassin“.
Also zurückspulen und Repeat-Taste drücken. Wieder ist die Nordwand das Ziel und wieder sind wir vor dem Wecker wach. Der Rucksackinhalt ist nach den Erkenntnissen der gestrigen Tour nochmals etwas optimiert. Kann nicht schaden – denn die Latte liegt heute eine Spur höher.
Es hat einen Grund, weshalb die Cassin später erstbegangen wurde als die Comici. Wer vor der Nordwand der Westlichen Zinne steht, kann sich denken warum. Zu ausladend ist das kuppelartige Riesendach in Wandmitte und immer noch überhängend das Gelände drumherum. Schwarze (=max. senkrechte) Felsbereiche – Fehlanzeige. Das ganze Gemäuer ist gelb und hängt bis ca. Wandmitte mehr oder weniger über. Kein Wunder also, dass bei einer Wand ohne offensichtliche Schwachstellen die Ersterschließung eine Weile gedauert hat. Lange galt die Westliche Zinne-Nordwand (wie so viele andere Wände auch) als „letztes Problem der Alpen“. Die letztendlich legendäre Erstbegehung war damals so heiß begehrt, dass Cassin & Ratti sogar jeglichen Ehrencodex vergaßen und sich an den bayrischen Vorerschließern der heutigen Route (Meindl & Hintermeier) im Nebel vorbeischlichen und ihnen somit den Ruhm vor der Nase wegschnappten. Statt eine aufs Maul gab’s am Gipfel dann von den düpierten Bayern freundlicherweise sogar noch Tee für die beiden italienischen Gauner.
Tobi und ich laufen heute im Uhrzeigersinn um die Zinnen herum. Ein perfekter Tag kündigt sich an. Zumindest für uns. Eine Südtiroler Seilschaft kommt uns unterhalb der Nordwände entgegen – Gurt vergessen. Ärgerlich. Die beiden sind trotzdem nicht schlecht gelaunt, wünschen uns Glück und empfehlen noch die Petri heil, was Tobis Augenlied kurz zucken lässt. Nachtrag: Mittlerweile hat er sie eh schon geklettert und somit seinen Frieden 😉
Jetzt zur Cassin: Von Anfang an gehen wir dieses Mal ans Seil – die Tour startet mit durchaus steiler 4er-Kletterei. Den 6er in SL3 (lt. Topo bergsteigen.com) können wir zwar nicht finden, sind aber trotzdem warmgeklettert, bevor es nach der Gabelung Cassin / Scoiattoli zur Sache geht.
Ein schmales Band leitet horizontal nach links und endet bald abrupt. Ab hier dämmert dir, dass du jetzt besser in die Hände spuckst. Es geht überhängend, diagonal nach links ums Eck im 7ten Grad. Nach ein paar kräftigeren Zügen sehe ich überrascht einen Bohrhaken und richte den Standplatz ein.
Tobi übernimmt anschließend die Schlüsselseillänge.
Die Richtung wird beibehalten, die Steilheit nimmt zu, die Griffe werden kleiner. Der 8. Grad. Und das bei fragwürdiger Absicherung mit Schlaghaken + Schlingen aller Qualitätsstufen. Einen Vorstiegssturz will man da freiwillig nicht unbedingt riskieren, deshalb wird hier das ein (Tobi) und andere (ich) Mal in die solide ausschauenden Schlingen reingelangt. Und selbst dann bleibt die Kletterei anstrengend genug. Ich steh bzw. hänge ziemlich unbequem am Stand. Tobi verschwindet leise fluchend ums Eck aus meinem Sichtfeld. Wir haben blöderweise einen ordentlichen Seilsalat fabriziert, den ich aber sichernd entwurschteln kann. „Hat ja nur 15m, die Schlüsselseillänge“, denke ich mir. Danach kommt die legendäre 100m-Querung. Tobi aber hat einen anderen Plan: Davon ausgehend, dass ich den Seilsalat entwirrt bekomme, sieht er zwar den gammelschlingenverhangenen Quergang 10m über sich (inkl. Standplatz), bevorzugt dann aber eine schwach ausgeprägte Querung direkt links von sich, ein Stockwerk tiefer und klettert drauf los.
Ich bin mir nicht mehr sicher, ob wir einfach nur vergessen haben, die ganzen Friends an Tobis Gurt zu hängen, vor dieser Seillänge – oder ob wir ursprünglich davon ausgegangen sind, dass er diese für die 15m-Cruxlänge ohnehin nicht benötigen wird.
Wie auch immer – Tobi verlängert also spontan die Schlüsselseillänge und schleicht waagerecht in anspruchsvollem, maximal ausgesetztem Gelände weitere ca. 30m nach links. Mangels Material an Gurt und in der Wand auf die letzten 15m-20m ohne Zwischensicherung. Wenn man gepumpt aus der Crux kommt, so wie ich, dann will man das auch als Nachsteiger nicht wirklich sehen.
Aber hilft ja nix. Den eigentlichen Quergang weiter oberhalb, mit den 200 Schlingen zum Notfallnullen schau ich mir kurz neidvoll an und richte mir das Nervenkostüm. Beim Sturz wartet das Monsterpendel in Richtung Baur-Dach unter uns. Da kann die Hose schnell braun werden. In Bildern schaut der Psychotest so aus:
Tobi nimmt das Ganze mit Humor – ich mit Puls. Aber geht ja dann doch immer irgendwie. Wir sind nun an dem Standplatz, den man eigentlich erst durch Abklettern nach der 6. SL erreicht. Noch eine weitere Seillänge leitet die Route horizontal nach links, bevor man das Band über einen unangenehmen Überhang nach oben verlässt. Ab und zu wundert man sich doch über die Schwierigkeitsangaben.
Die Linienführung ist allerdings von Anfang bis Ende atemberaubend und respekteinflößend!
Vor dem Wasserfall, der heute keiner ist, muss ein weiteres Mal im 7ten Grad rangeklotzt werden in toller Kletterei, bevor man erneut querend auf das nächste große Band gelangt.
Die Überdachung des Bandes wird an ihrer einfachsten Stelle überlistet, was aber nicht bedeutet, dass dies einfach vonstatten geht. Man muss auf 3-4m vom Band weg tief in die Boulder-Trickkiste greifen, bevor sich die Wand zurücklehnt. Aber nur kurz, denn in SL14 wird an der linken Begrenzung des riesigen Amphitheaters, in einer senkrechten Verschneidung mit guten Griffen (viele NH), die letzte anspruchsvolle Hürde genommen.
In SL15&16 cruisen wir in entspanntem 4er-Gelände hoch zum Ursprung des Wasserfalls – einem schneegefüllten, großen Kessel mit einer feuchten Schlucht in der Mitte.
Hier sollte man sich nicht dazu verleiten lassen, im Schrott weiter hoch zu steigen. Am anderen (östlichen) Ende des Kessels sieht man oberhalb einer offensichtlichen Rampe einen großen Steinmann. Da geht es lang (SL17+18). Eine letzte kleine Wand leitet auf das breite Ringband, welches das Ende eines großartigen Abenteuers und legendären Alpinkletter-Leckerbissens darstellt.
Bis auf eine nachkommende Seilschaft, die an der Gabelung geradeaus in die Scoiattoli abbiegt, haben wir an diesem Tag, in 7h Kletterzeit, die Cassin ganz für uns allein – was soll man dazu sagen?! 🙂
Den Gipfel lassen wir uns natürlich auch bei der Westlichen Zinne nicht entgehen, genießen die Aussicht von oben, vor allem zur Großen Zinne rüber und lassen das Seil, den Normalweg abkletternd, im Rucksack.
PS: @ Christoph Klein – falls du diesen Bericht lesen solltest – deine Schneidezähne haben wir am Wandfuß vergeblich gesucht, aber deine Neuen schauen ja auch ganz ok aus.
Tja… und nun? Kleine Zinne – gelbe Kante? Ne! Ein anderes Mal 😉
Mich hat die Tour jedenfalls nachhaltig beeindruckt! Das seh ich auch daran, dass die Erinnerungen an die am Tag zuvor gekletterte Comici, teilweise überspeichert wurden 😉
Wer also auf klassische Abenteuer-Touren mit historischem Wert steht und dem Grad gewachsen ist – dem kann ich diesen Meilenstein nur wärmstens empfehlen!
Steckbrief Westliche Zinne, Cassin-Ratti:
- Schwierigkeit: VIII (ein paar Meter), VII (ein paar Meter mehr), VI obl.
- Absicherung: alpin! Im unteren Teil meist 2-3 gute NH als Standplatz + generell viele NH unterschiedlichster Qualität. Im oberen Teil muss mehr improvisiert werden
- Schlosserei: Cams 0,3-1 schluckt der Fels gut und gern
- Hoch / runter: 650m Kletterei (aufgrund der langen Quergänge) auf 18 SL + Rest via Normalweg auf Gipfel