05.07.2020
Des Zillertals geilste Kante
Der Atem bleibt einem bei der Ankunft im Hochtal der Bodenalm gleich doppelt stehen. Zum einen wegen den bis hierhin bereits im Schweinsgalopp zurückgelegten 700 Höhenmetern ab dem Wasserkraftwerk im Zillergrund. Zum anderen wegen dem ersten Blick, den man auf das Ziel des Tages erhascht.
Majestätisch und perfekt von der aufgehenden Sonne in Szene gesetzt zieht der Mittergrat, wie die Nordkante auch genannt wird, dem wolkenfreien Himmel entgegen.
Kurz muss ich mir den Mund abwischen, so schön ist der Anblick und so lange schon hatten wir darauf gewartet diesen Klassiker endlich angehen zu können. Moderate Schwierigkeiten im Besten was Urgestein zu bieten hat haben mittlerweile dazu geführt, dass sich die Tour innerhalb weniger Jahre vom Geheimtipp zum „Klettergarten“ gewandelt hat. Gewisse Staueffekte sind da vorprogrammiert. Auch weil der Grundschartner nicht selten unterschätzt wird. Daher an potentielle Interessenten an dieser Stelle neben den ganzen Appetitmachern hier ein paar abschreckende Hinweise: 1500 Höhenmeter Zustieg! Danach 700m komplett bohrhakenfreie (!) Kletterei auf einen 3000er! Sehr langer, anstrengender Abstieg! Sehr hohe konditionelle Anforderungen! Wenn dich das alles reichlich wenig juckt – viel Spass in dieser Knallertour! 🙂
Nach einer Nacht am Boulderer-Hotspot „In-der-Au“ parken wir am Wasserkraftwerk Häusling und rennen den Vieh-Pfad hoch zur Bodenalm.
Rechtes Schuttkar über Blockwerk hoch, Ausstieg über den linken grasigen Steilhang. Danach leicht linkshaltend der Kante entgegen, zu dieser Jahreszeit noch Altschneefelder querend.
Die Teleskopstöcke waren da sehr angenehm. Es besteht bei der gesamten Tour klimawandelbedingt kein Gletscherkontakt mehr. Den Grat gewinnt man über leichte Kletterei an einer Schwachstelle am untersten Rand des Firnfeldes.
Bis hierhin haben wir 90min gebraucht und die ersten Kletterkollegen passiert. Am Grat ist erwartungsgemäß einiges los, aber die Seilschaften sind recht gut verteilt.
Wir wollen schnell sein, wenn möglich viele Meter am laufenden Seil mit T-Bloc-Sicherung klettern, uns aber nicht stressen lassen. Seilfrei überholen wir auf den ersten drei Seillängen ein an der 4er-Abkletterstelle bereits etwas überfordert wirkendes, junges Pärchen. Überschlagend agierend kommen wir flott voran.
Thomas bezieht Stand unterhalb der Schlüsselstelle – einem markanten Steilaufschwung.
Hier gibt es einige Schlaghaken und bei Bedarf an der Crux eine Schlinge zum Nullen, welche wir aber links liegen lassen. Im Zickzack geht es luftig nach rechts weg, danach steil, kurz leicht überhängend gerade hoch. Die boulderartigen Züge lösen sich überraschend gut auf. Ich mache an soliden Schlaghaken + Zusatzfriend Stand direkt oberhalb des Crux-Blocks.
Der Fels ist wirklich ein absoluter Traum in Griffigkeit und Festigkeit, nimmt mobile Sicherungsmittel dankend auf und bietet selbst an schwer ausschauenden Passagen wunderbar kletterbare Strukturen an granittypischen Platten und Schuppen. Darüber hinaus sind die zahlreich vorhandenen Normalhaken durchaus als vertrauenserweckend zu bezeichnen.
Unter diesen Traumbedingungen kommen wir super voran, müssen tatsächlich nirgends warten, weil man Standplätze ohne Weiteres improvisieren und auch problemlos aneinander vorbei klettern kann.
So sind wir schnell am „Adlerschnabel“ angelangt, wo spannende Plattenschleicherei angesagt ist
Längst im Trancezustand fliegt die Kante am laufenden Seil unter unseren Füßen dahin.
Thomas schnappt sich den letzten Steilaufschwung mit einem athletischen Zug über einen senkrechten Block und plötzlich ist’s viel zu schnell vorbei – vor uns bloß noch Blockgelände und direkt dahinter das Gipfelkreuz. Wo sind die 700m geblieben? 3,5 Stunden haben wir für die Kante gebraucht.
Oben treffen wir starke Jungs aus Innsbruck, die den Grat mit Bergstiefeln geklettert sind. Nach Rast und Plausch ärgern wir uns kurz darüber nicht einfach mit dem Gleitschirm zur Kneipe im Tal schweben zu können und treten den langen Abstieg an. In den Foren wird von schaurigem Gletscherschliff, unendlichem, losen Schutt und Steinschlaggefahr berichtet. Anfang Juli aber schauts bei uns so aus:
Das Grauen liegt unter wunderbar angetautem Altschnee begraben 😀
So wird zumindest der obere Teil des Abstiegs fast so entspannt wie ein Gleitschirmflug. Im Mittelteil muss man die Augen gut aufhalten um sich nicht in vertikale Sackgassen zu verrennen.
Einfach den recht guten Markierungen (Steinmännchen und Stangen) folgen. Der untere Teil ist ziemlich zugewachsen, aber wenn man sich durchs Gebüsch geschoben hat gibt’s unten die Erlösung:
Mit vollen Mägen watscheln wir durch den mit Boulderblöcken gespickten Sundergrund zurück zum Gasthof In-der-Au und haben nach 9h45min noch genügend Zeit für den isotonischen Ausklang einer besonders eindrucksvollen Tour, die das Potential hat, selbst höchste Erwartungen zu übertreffen. 🙂
Steckbrief Grundschartner Nordkante:
- Schwierigkeit: VI+ (eine Stelle), V obligatorisch
- Absicherung: Nur NH, kein einziger BH. Mit Schlingen + mob. Sicherungsgeräten top absicherbar
- Hoch / runter: 1500hm Zustieg, 700m Kletterei (18SL). Gesamt: 2100hm
- Übernachtung/Einkehr: Campingplatz „In-der-Au“. Angeblich gibt es in der Bodenalm wieder Betten