01.07.2020
„Kalkwand aus Granit“
Hohe Wand. Moderate Schwierigkeiten. Verrückt-andersartiger Kalkstein. Phantastischer Aussichtsgipfel. Herb-alpiner, anspruchsvoller Abstieg. So oder so ähnlich könnte die Kurzzusammenfassung dieser Tour lauten. Reizvolle Eigenschaften für den passionierten Alpinkletterer mit coronabedingtem Trainingsrückstand (Felsen gesperrt, Kletterhallen dicht 🙁 ).
Und weil die Tour auch noch Bestandteil des Auswahlführers „Im extremen Fels“ ist, hieß es für uns: machen!
Also Kletterzeugs + ausreichend Bier in Simons Bus gefeuert (damals noch im unausgebauten Zigeunermodus) und rüber in die Schweiz, zu den nordöstlichsten Ausläufern des traumhaften Berner Oberlandes. Die Tour ist ausreichend im Netz beschrieben, z.B. bei Sirdar oder Rocksports, deshalb beschränke ich mich auf einige wenige Ergänzungen und Herausforderungen, denen wir begegnet sind. Betrifft vor allem den etwas komplexeren Abstieg und den oberen Teil der Wand.
Wir wählten den etwas entspannteren Zustieg via Reichenbachalp:
„Burgerpräsident“??
15 € für die kurze Auffahrt riecht nach Wucher – aber danach riecht ja eigentlich die ganze Schweiz. Und egal wie du dich entscheidest – dein Geld ist weg. Saftige Parkgebühr am Rosenlaui-Parkplatz oder eben die Mautgebühr für 300 Höhenmeter Waldweg. Letzteres macht den frühen Morgen immerhin zum wenig anstrengenden Aufwärmprogramm.
Die Klettertour startet in einer von unten gut sichtbaren, markanten Verschneidung – ein gutes Stück oberhalb vom Wandfuß. Zu erreichen in leichter, aber stellenweise ausgesetzter Kraxelei, immer rechts haltend, durch die Schwachstellen der Wand. Die Wegfindung erschließt sich beim Näherkommen ganz gut und war u.M.n. nicht sonderlich kompliziert. Kurz unterhalb der Einstiegs-Verschneidung konnten wir 2 Kletterer ausmachen. Wir holten sie im seilfreien Zustieg rasch ein.
Die 2 Kletterer entpuppen sich als sehr sympathisches Gespann aus Schweizer Bergführer + Kundin aus Deutschland. Sie steigen unmittelbar vor uns in die Verschneidung ein. Wir hatten schon im Vorfeld beim studieren des Topos die Möglichkeit in Erwägung gezogen Längen am laufenden Seil zu verknüpfen, um flüssiger voran zu kommen. Bei einer 600m-Wand sicher, sofern es Linie + Wohlfühlfaktor zulassen, immer eine Überlegung wert. Ich hefte mich an die Fersen der Nachsteigerin und kombiniere wie geplant SL1+2 zu einer langen 65m-Seillänge, inklusive der Schlüsselstelle.
Die ersten 40m geben einem noch Zeit aufzuwachen in einfacher Bilderbuch-Verschneidungskletterei. Stefans (Bergführer) Kundin überhole ich am Standplatz, baue eine Tibloc-Seilklemme in die Sicherungskette mit ein und steige weiter. Man verlässt nun die immer steiler (und nasser) werdende Verschneidung nach links auf die Platte (neue Linienführung?). Diese glatte Platte ist nun die Schlüsselpassage, VI+/VII-. Kurz und knackig, aber schön zu klettern. Ein Bohrhaken relativiert die kleinen Griffe und Tritte, die es zu halten gilt. Simon sprintet nach, schnappt sich das Geklimper und rennt weiter. Der flotte Zweier nimmt Fahrt auf:
Seillänge um Seillänge schrauben wir uns nach oben wie im Flug. Der plattige Kalk ist wirklich bemerkenswert anders. Teilweise nach unten geschichtet, aber sehr kantig, teilweise würflig strukturiert.
Wir sind mitlerweile an der Schluchtquerung im oberen Teil angekommen. Eigentlich folgt jetzt bloß noch leichteres Gelände, Bändern nach rechts folgend, kurz die steinschlagträchtige Rinne hoch und wieder rechts raus um die Steilwand herum zum Grad. Aber wir machens uns irgendwie nicht so einfach. Rinne zu weit hoch und dann rein in die stellenweise eklig bröckelige Steilwand und schnurstracks hoch. Immerhin gibts hier und da einen Schlaghaken zur Orientierung. Im Topo ist da in der Gegend eine „direkte Variante, VI“ angegeben. Naja was solls. Nachahmern rate ich jedenfalls von dieser Variante ab. Zu schlecht sind Gestein und Absicherung. Stand 1 wird an Friends, Stand 2 an zwei halbwegs vertrauenserweckenden Schlaghaken + solidem Zusatzfriend gemacht.
Nach diesem Ausflug schnappt sich Simon die letzte Seillänge zum Gipfel und es ist geschafft! Die Aussicht reicht vom Alpenvorland bis in den Eisschrank des Berner Oberlandes, mit seinen 4000ern. Sehr beeindruckende Exponiertheit!
Wir genießen eine ganze Weile die Gipfelrast, habens nicht eilig. Auch weil wir wissen, dass der Abstieg nochmal volle Konzentration erfordert. Als Bergführer Stefan + Kundin auftauchen räumen wir die Gipfelnadel frei und machen uns auf die Suche nach der richtigen Abseilstelle.
Der „Gipfel“ ist eigentlich nur ein Vorgipfel der Engelhörner. Man folgt dem zackigen Grat in Richtung Süden, wobei einige Türme umgangen oder überklettert werden. Dort wo ein ebenfalls sehr ausgesetzter Grat vom Westen mündet biegt man auf diesen ab. Vor dieser Kreuzung sehen wir unten einen etwas maroden Schlingen-Abseilstand. Wir entscheiden uns gegen diesen und klettern den Westgrat eine Weile ab. Man muss eine geeignete (Abseil-)Stelle finden um vom Grat in den westseitigen Kessel zu gelangen.
Den Westgrat klettern wir ein Stück hinab bis wir einen Abseilring an einem Turm finden. Die 60m-Seile reichen nicht bis ganz runter in den Kessel, weshalb ein zweites Abseilmaneuver von Nöten ist. Ein sehr spezielles zugleich. Steht dort in der Wand auf einem Vorsprung eine, wie vom Steinmetz behauene große Platte. Würde auch gut als Grabstein herhalten. Daran befestigt – alte, dicke Reepschnüre und ein Karabiner. Ziemlich abenteuerlich, aber besser als nix, denken wir uns. Wir prüfen erst noch, ob uns der Grabstein auch ja nicht beim Abseilen auf den Schädel fliegt, stabilisieren die Konstruktion noch mit einem Friend und Simon spielt das Versuchskaninchen. Die Dicken immer zuerst. Naja…die Platte steht noch.
Im Kessel angekommen folgt man in tw. leichter Kletterei (I-II) den Steinmännchen. Augen gut aufhalten! Wenn es zu steil wird ist man falsch! Man hält auf eine ausgewaschene, große Rinne zu (Bild unten). Dort je nach Seillänge 2-4mal Abseilen und auf gar keinen Fall den Ausstieg nach rechts (Blickrichtung nach unten) verpassen – sonst sitzt man in der Falle.
Der Ausstieg kommt an einer schrofigen Schwachstelle. Dort noch einmal abseilen. Für den bis hierhin beschriebenen Abstieg und alles was danach kommt (man ist noch lange nicht unten) sind die folgenden Bilder, welche wir auf der Engelhorn-Hütte im Führer gefunden haben, sehr hilfreich.
Bei schlechter Witterung und schlechter Sicht kann der Abstieg sicher schnell zum Gruselfilm mutieren – so aber können wir uns gut orientieren, finden alle Markierungen und Abseilstellen und finden sogar, dass der Abstieg der Gesamtunternehmung Kingspitze eine nachhaltige Würze bringt.
Würzig war dann auch der Schmaus + reichlich Bier auf der Engelhornhütte, die allein schon die Reise wert ist.
Und da ist es wieder – das Loch im Geldbeutel. Reichlich Franken in Form von Euros rinnen uns durch die Hände, machen die Schweiz noch reicher und uns immer besoffener. Der Flüssigkeitshaushalt passt nach 2h Konsum dann wieder und wir stolpern nach einem kurzen Plausch mit der mittlerweile auch angekommenen Schwyzer-Deutschen Zweierseilschaft zurück zum Auto. Zum Heimfahren ist das Wetter noch viel zu gut und Bier gibts ja auch noch. Eins kommt zum anderen und wir liegen den Rest vom Abend faul wie Kühe auf der Wiese im Tal und lassen uns volllaufen.
Und weil man nach 372625 Bier nicht mehr fahren kann, bleiben wir einfach an Ort und Stelle und pennen noch eine Nacht im Bus.
Steckbrief Kingspitze, Nordostwand (Steuri):
- Schwierigkeit: VII- (eine Stelle), oft VI-V. Oben raus auch leichter, wenn man nicht falsch abbiegt
- Absicherung: Route wurde saniert, heißt: Stände (Muniringe oder 2 BH) & neuralgische Stellen sind gebohrt bzw. haben gute NH, dazwischen kann ergänzt werden
- Hoch / runter: 500hm Zustieg, 650hm Kletterei (ca. 20SL)
- Übernachtung/Einkehr: Engelhorn-Hütte