02.08.2016 – 03.08.2016
Das Finale unseres Seven-Summit-Sommerurlaubes
Bestens akklimatisiert vom Gran Paradiso, konnten wir uns im Stau vorm Mont Blanc-Tunnel schon einmal mental auf das einstellen, was einen zur Hauptsaison Anfang August auf der Normalroute auf den Monarchen der Alpen erwarten wird.
Die Hütten im Zustieg, vor allem das hochgelegene „Refuge du Goûter“, sind zu dieser Zeit schon Monate im Voraus ausgebucht… blöderweise nicht von uns, was uns leider wieder zur altbewährten „Versuch-mas-trotzdem“-Strategie gezwungen hat: Spät ankommen, entschuldigen, bitten, betteln, Anschiss abholen und mit ein wenig Glück ein storniertes Bett oder ein Plätzchen im Notlager ergattern – hat bisher immer funktioniert. Der andauernde Hype um Abenteuer in den Bergen ist mit der Spontanität heutzutage leider nicht mehr kompatibel. Dies betrifft vor allem die Hauptattraktionen der Alpen. Andrang, Leichtsinn, Überforderung und Dummheit tun ihr Übriges und führen mittlerweile zu traurigen Konsequenzen: Am Matterhorn bereits seit längerem so praktiziert, gibt es seit Sommer 2019 auch am Normalweg des Mont Blanc eine Gipfelquote. Heißt: Keine vorzeigbare Hüttenreservierung – keine Besteigung, Campen verboten. So wollen die Behörden den Massenansturm reglementieren. Bei uns gab’s die Regelung damals noch nicht – den Massenansturm aber schon.
Das Wetter war zu dieser Zeit recht launisch und zwang uns, den Tag nach unserer Ankunft erst einmal mit Klettern, Kochen und Shoppen auszuharren. So hatte Philipp immerhin Zeit, sich endlich Handschuhe zu kaufen, damit ihm nicht – wie am Gran Paradiso – die Hände wieder abfrieren.
Für die folgenden zwei Tage öffnete sich nun ein aussichtsreiches Zeitfenster, welches wir nutzen wollten.
Mit zwei Hütten entlang des Normalweges, dem „Refuge de Tête Rousse“ auf 3140m und dem „Refuge du Goûter“ auf 3820m, ergeben sich viele Möglichkeiten in Sachen Taktik. Genau zwischen diesen beiden Hütten liegt laut Unfallstatistik die größte Gefahrenzone der Tour: das Grand Couloir und der Goûter-Grat. Immer wieder kommt es in diesem felsigen Teil, bedingt durch Steinschlag und Abstürze zu Verletzungen und z.T. tödlichen Unfällen. Besonders zur warmen Tageszeit hagelt es im Grand Couloir, welches zwingend gequert werden muss, Steine in allen Größen – von Golfball bis Kleiderschrank:
Unser Schlachtplan:
- Mittags per Zahnradbahn hoch zum Nid d’Aigle, dem Startpunkt auf 2370m
- Rast am Refuge de Tête Rousse
- Später Durchstieg des Grand Couloirs, um die gefährliche Mittagszeit im Couloir zu vermeiden
- Übernachtung im Refuge du Goûter auf 3835m
- Nächtlicher Aufstieg + Sonnenaufgang am Gipfel
- Anschließender Komplettabstieg bzw. je nach Verfassung nochmals Zwischenübernachtung
Am Bahnhof der Zahnradbahn stürzen wir uns ins Getümmel. Ein bunt gemischter Haufen aus Bergsteigern und Wanderern aller Nationalitäten. Den einen reicht der Blick von hier oben aus, andere laufen zur Gletscherzunge rüber oder zumindest bis zum Refuge de Tête Rousse hoch – der Rest peilt den höchsten Punkt der Alpen an.
Nach entspannter Wanderung machen wir am Refuge de Tête Rousse Zwischenstopp. Pasta wird gekocht und der ganze Krempel auch gleich in der Hütte deponiert.
Ab hier wird’s ernst. Oberhalb der Hütte kommt das steile Felsgelände mit der gefürchteten Steinschlagrinne und dem anschließenden Goûter-Grat.
Wir pirschen uns heran. Unmittelbar vor dem Couloir hat man einen halbwegs geschützten Bereich, um den richtigen Moment abzuwarten. Die Uhr zeigt 16:20 Uhr. Es ist bewölkt und relativ kalt. Ab und an rauscht ein Stein vorbei, aber insgesamt zeigt sich die Rinne gutmütig. Vor uns macht sich eine Seilschaft bereit für die ca. 50m lange Querung über einen schmalen Trampelpfad. Ein Sturz und man purzelt in Richtung Tal. Zügig und konzentriert durchmarschieren, lautet das Motto. Man kommt sich vor, wie ein Soldat, der unter Beschuss von Schützengraben zu Schützengraben übers Schlachtfeld rennt. So richtig realisiert hat das nicht jeder. Der letzte der Gruppe vor uns bleibt gleich mal mitten im Couloir stehen und verteilt Ratschläge. Ohne Zwischenfall bringen wir die Passage am kurzen Seil hinter uns.
Es folgt leichte Kraxelei, bei der die größte Herausforderung darin besteht, keine Steine loszutreten.
Im oberen Bereich des Grates sieht man gut in den riesigen Trichter des Grand Couloirs hinab, der sich wie ein Flaschenhals zusammenzieht, genau an der Stelle, an der gequert wird. Alle Steine, die hier oben ausgelöst werden, sorgen auf dem Weg nach unten für eine Kettenreaktion.
Der felsige Teil der Tour endet schlagartig am alten, verlassenen Refuge auf der Aiguille du Goûter-Klippe am Rand des Gletschers. Wir ziehen die Steigeisen an und tauchen ein in eine dicke Wolkendecke.
Vor uns im Nebel zeichnet sich plötzlich ein riesiges Raumschiff in Form eines Ostereis ab – das Refuge du Goûter.
Die Eingangstür steht schon halb offen. Der Schuhraum lässt sich in wenigen Worten beschreiben: Kalt, nass, stinkig. Dennoch liegen hier überall, wo noch Platz ist, vorzugsweise auf den wenigen Bänken, überall Menschen, eingerollt in ihre Schlafsäcke. Vorherrschende Sprache: Osteuropäisch. Hinter der nächsten Tür wird’s schon gemütlich und warm. Daumen gedrückt haltend, gehen wir zur Anmeldung. Erwartungsgemäß gibt’s vom genervten Hüttenwirt einen standesgemäßen und verdienten Einlauf. Nun wissen wir auch, warum der Schuhraum voller, sich totstellender, Schlafsackmumien liegt: Bei Nichtreservierung zahlt man den vollen Übernachtungspreis (80€) und darf sich in den feuchten Stinkekeller legen. Wir haben trotzdem noch Hoffnung und ergattern tatsächlich eine halbe Stunde später, aufgrund einer Stornierung, noch zwei Betten – zu Dritt.
Für schlappe 8€/Flasche gönnt sich jeder noch einen Liter Wasser und wir teilen uns ein überdimensionales Kartoffelgratin.
Vollgestopft und zufrieden, der Schuhraumhölle entkommen zu sein, quetschen sich Antje und ich in unsere 60cm-Konservenbett-Büchse. Gepaart mit einer Schlafhöhe von mehr als 3800m verspricht diese Kombination ein paar Stunden Wachkoma, bis der Wecker um 2 Uhr morgens läutet.
Für 80€ / Nacht wird man zum Ankurbeln des Körpers nun mit einem überaus bescheidenen Frühstück verwöhnt. Trockenes Brot mit Zucker-Konfitüre und staubiges Müsli hab ich noch in Erinnerung.
Um ca. 3 Uhr marschieren wir und viel zu viele andere los. Im Zickzack den steilen Spuren folgend schieben sich die Seilschaften den Dôme du Goûter hinauf. Bereits hier kommen uns leichenblasse Abbrecher entgegen oder hocken über ihrem Erbrochenen. Unser Tempo ist langsam, aber kontinuierlich. Das Wetter noch verhalten, aber nicht unangenehm. Nach einiger Zeit durch die Dunkelheit erreichen wir das Bivouac Vallot – eine simple, robuste, unbeheizte und unbeleuchtete Aluminium-Schachtel auf 4362m. Man steigt von unten ein. Drinnen – ein Bild des Grauens: Vom Müll mal abgesehen, lagen überall völlig verausgabte, meiner Meinung nach teilweise akut höhenkranke Leute herum. Eine völlig apathisch wirkende Frau wurde von ihrer Gruppe mit Medikamenten versorgt. Wir hielten uns nicht lange auf und gingen weiter. Langsam erwachte der Tag:
Der Mont Blanc-Gipfel, das konnte man in der Dämmerung sehen, war komplett eingehüllt in eine mystische Nebelglocke. Bergsteiger, die uns im Abstieg entgegen kamen, waren davon völlig eingeeist.
Wie in einer kitschigen Inszenierung – wir waren gerade auf dem schönsten Teil der Route: dem ausgesetzten Bosses-Grat – ging die Sonne auf und wischte bald den Gipfel frei.
Hätte man sich diesen Moment ausmalen können – er wäre nicht schöner gewesen.
Die Gratschneide zieht auf die letzten Metern sehr ästhetisch und steil hoch zum höchsten Punkt.
Um 7:29 Uhr geht es nicht mehr weiter nach oben – wir stehen auf dem Dach der Alpen!
Das Besondere am Gipfel des Mont Blanc: Er besteht aus einem ca. 14m-mächtigen, kuppelförmigen Eispanzer, der keine Befestigung eines Kreuzes zulässt und ist geräumig genug, damit sich nicht alle Gipfelstürmer auf den Füßen rumstehen müssen. Das Wetter tut sein Übriges dazu – es ist nahezu windstill, die Sonne strahlt und sogar Antje ist nicht kalt. Vereinzelt hängen noch Wolken pittoresk in den höchsten Spitzen des Berner Oberlandes, dem Wallis und der Umgebung.
Eine Aussicht, wie aus dem Flugzeug, so deutlich hebt sich der Weiße Berg gegenüber allen anderen Gipfeln der Alpen ab. Der nächsthöhere Berg liegt im Kaukasus und ist 2800km entfernt. Spätestens hier oben erkennt man, dass die Erde eine Kugel ist.
Im Abstieg ziehen sich die Aufstiegs-Karawanen noch immer bis fast runter zum Dôme du Goûter, dessen höchsten Punkt man seitlich umgeht, um sich den Gegenanstieg zu ersparen.
Philipp und ich lassen uns die Chance, diesen 4000er im Vorbeigehen auch noch mitzunehmen, nicht entgehen und machen den Umweg, während Antje an der Umgehung pausiert und die phänomenale Aussicht genießt.
Im Anschluss geht es gemeinsam weiter die Goûter-Flanke hinab, mit atemberaubender Sicht zum Aiguille du Bionnassay, dem westlichsten 4000er im Mont Blanc-Massiv, rüber:
Zurück im Refuge du Goûter, machen wir und die meisten anderen Gipfelstürmer eine kurze Pause im Speiseraum. Ist die Besteigung des Mont Blanc anstrengend? Hier die Antwort:
Auf eine weitere Nacht Wachkoma + Blattgoldwasser haben wir keinen Bock. Es ist außerdem noch früh genug, um unten die Zahnradbahn zu erwischen. Drum rappeln wir uns nochmal auf und kraxeln den Grat abwärts.
Wieder begegnet uns die am Mont Blanc leider allgegenwärtige, blanke Dummheit. Leichtsinnige, junge Bergsteiger verlassen den Weg, räumen haufenweise Steine ins Grand Couloir ab oder springen in der absoluten No-Fall-Area von einem wackligen Felsen auf den nächsten. Einer fliegt dabei fast vornüber den Abhang runter, sein Kumpel kann den Abgang auf einem steilen Firnfeld (wohlgemerkt ohne Steigeisen) noch gerade eben abbremsen. Am Grand Couloir angekommen, warten wir, wie bereits im Aufstieg, den richtigen Moment ab für die heikle Querung. Der Rest ist Formsache – um ca 16 Uhr sind wir zurück an der Zahnradbahn. Insgesamt schleppt man sich vom Gipfel 2500 Höhenmeter hinunter zum Nid d’Aigle.
Wenn du dann noch am selben Tag vom Tal in Chamonix aus mit einem Bier in der Hand nach oben blickst, den oberen Routenverlauf verfolgst – am mächtigen Dôme du Goûter entlang, vorbei am, wie ein Stern in der Abendsonne leuchtenden Bivouac Vallot, den Bosses-Grat hinauf zum Gipfel – allerspätestens in diesem Moment sind dir die abgefallenen Zehnägel und kaputten Kniee aber sowas von Wurscht! 🙂
Berg heil!
Stephan
Ein Gedanke zu „Mont Blanc (4810m), Goûter-Route“
Ich beneide euch um dieses Bergerlebnis!!!!!ich glaube, schöner kann man den Mont Blanc nicht erleben!!!!! Hochachtung vor eurer Fitness!!!
Videos und Bilder wie immer gigantisch!!!!