24.07.2022
Die zu Stein gewordene Haifischflosse hoch über dem Walensee
Sanft abfallende Wälder und Weiden auf der Nordseite, südseitig vertikale Abbrüche – die Churfirsten in der Schweiz. Dieser Kontrast sorgt für einen krassen Spannungsbogen, bereits im Zustieg.
Fred und ich reisen ganz entspannt Samstagnachmittag an, haun uns noch vor der Grenze im Ristorante den Magen voll und kommen im letzten Tageslicht auf der schier unendlich großen Kuhweide des Selamatts an. Purer Heidi-Kitsch: Saftige Almen, kleine Sennereien, Blick auf die Appenzeller Alpen und Kühe ohne Ende. Der ganze Berg wird von Kuhglocken beschallt. Klingt sehr idyllisch – raubt dem biwakierenden Fred auf seiner Isomatte aber leider etwas den Schlaf.
Nun soll es früh am Morgen der starke Kaffee richten, aber auch hier haben die neugierigen Wiederkäuer was dagegen und stürmen kurzerhand den Caddy. Hinten wird die Bialetti umgeschmissen, vorne über die Haube geschlabbert und wenn wir die Viecher nicht mit seltsamen Geräuschen vertrieben hätten, wären sie auch noch ins Auto eingestiegen.
So wurtscheln wir uns irgendwann an den Vierbeinern vorbei, über Trampelpfade, streckenweise weglos hoch zur Lücke zwischen Zuestoll und Brisi, der Palis Nideri auf 2009m.
Die Szenerie wechselt hier schlagartig. Steil geht es 1600 Höhenmeter hinunter zum Walensee.
Links und rechts der Lücke türmen sich dolomitenartig 250m hohe, mit Dächern gespickte Wände in den Himmel. Über einen tw. sehr ausgesetzten und bei Näse sicherlich unangenehmen Pfad, muss nun horizontal nach links unter die Südwand des Zuestoll zum Einstieg gequert werden. Seilversicherungen entschärfen die heikelsten Passagen. Das Band mündet in einen sonnenbeschienenen, grünen Absatz, auf einem senkrecht abbrechenden Sockel direkt unter der Südwand – der Einstieg zu allen Routen. Ein wunderbarer Flecken Erde und allein schon den Zustieg wert.
Trotz bestem Wetter, einfacher Zugänglichkeit, atemberaubender Kulisse und einer üppigen Routenauswahl sind wir heute überraschenderweise die einzige Seilschaft am Berg.
Unser Ziel ist die Alte Südwand. Die Route schlängelt sich mit etlichen Quergängen kreuz und quer durch das teilweise überhängende Gemäuer. Noch nach der vierten Seillänge hat man dadurch beim Blick nach unten das Gefühl kaum von der Stelle zu kommen.
Das Topo lässt außerdem erahnen, dass man eine freie Begehung nicht geschenkt bekommt. Auf insgesamt 14 abwechslungsreichen Seillängen muss in vier Längen der VIIte Grad geknackt werden. Wir waren bereits bei der Anreise gespannt, ob wir unsere momentan starke Sportkletterform vom Plastik auch an den Kalk bringen werden. Eine erste Antwort auf diese Frage kann man sich bereits in SL2 selbst geben.
Nach einfachem Vorgeplänkel den schrofigen Pfeiler hinauf biegt die Alte Süd scharf nach links in eine Platte ab. Plötzlich sind alle Griffe und vor allem die Tritte verschwunden. Man muss sich kurz wachrütteln um den Blick zu schärfen. Beherzt die Minileiste links hoch antreten und rüberschieben. Eigentlich bloß eine Einzelstelle (VII-), aber eben gleich zu Beginn.
Nach diesem ersten VIIer sind Fred und ich angekommen in der Route. Wir klettern überschlagend – so fallen auf jeden Vorsteiger jeweils zwei der vier harten Seillängen. Über Absicherung und Orientierung muss man sich keine Sorgen machen – die Route ist stellenweise so arg übersaniert, dass man von einem zum nächsten Bohrhaken clippen kann. Ernsthaft! Keinen einzigen Friend oder Keil legen wir bis zum Gipfel.
Auch kurios an dieser Wand ist der Blickwinkelkontrast. Schaut man nach oben, sieht man überhängende Felslandschaften, nach unten wiederum eine grüne Blumenwiese, weil sich auf jedem noch so kleinen Absatz Gräser und Blumen festkrallen.
Auf Fred fallen die ungeraden Seillängen im Vorstieg, deshalb muss er in der Schlüsselseillänge (5. SL) ran. Vom Stand weg sieht man 4m oberhalb bereits den abdrängenden Riesenwulst mit anschließender Platte. Die passenden Griffe sucht man nicht lange, es gibt nämlich kaum welche. Fred schnappt sich den seitlichen Untergriff im Überhang, blockiert mit rechts die Fingerleiste, tritt mit links gaaaanz weit oben auf Reibung und schiebt sich rüber.
Nun steht man ziemlich instabil auf dem linken Bein in der Platte und muss durch geschickte Gewichtsverlagerung und kleinste, scharfkantige Unebenheiten im geschlossenen Fels nach links tänzeln. Danach ists geschafft! Klettertechnisch nicht einfach, dafür auch hier wieder eine Absicherung wie in der Kletterhalle.
Weiter geht es in Schlangenlinien durch die Wand. Der Fels ist immer gut bis premium, vor allem in den anspruchsvolleren Abschnitten.
Nach einem grasigen Band wartet die dritte harte Länge (SL8). Nun bin ich wieder an der Reihe. Was im Topo noch als „plattiges Gelände“ angegeben ist, entpuppt sich als difficile Wandkletterei. Steil an scharfen Crimps geradeaus hoch zu einem Handriss, dann eher athletisch an Seitgriffen diagonal nach links.
Anschließend folgt erneut eine waagerechte Querung, an einem Tannenbaum vorbei, mit anschließender Rissverschneidung hoch zum Wandbuch.
SL10 führt in einem großen links-rechts Schlenker am Ende über wunderbar ausgesetzte, superraue Platten zum Standplatz unterhalb der letzten VIIer-Länge. Auch dort dann wieder ganz feine Kletterei in allerbestem Schrattenkalk. In Erinnerung blieb uns der entscheidende, kleine, fragil wirkende Untergriff in der Linksquerung der Schlüsselpassage und die weiten Spreizschritte in abdrängender Exposition.
Danach ist Genussklettern angesagt bis zum Gipfel. Freie Begehung geglückt!! Wir mischen uns unters Bergwanderervolk am Gipfel, machen das obligatorische Selfie und steigen ganz entspannt über den Normalweg auf der Nordseite ab – zurück in den Wäldern und Wiesen.
Fazit:
Es gibt einfach überhaupt nix zu meckern. Die Kletterei ist von Anfang an schön, anspruchsvoll und wird nach oben hin sogar noch besser. Der Fels ist zwar ab und an bewachsen, vor allem auf den Bändern, aber eigentlich immer fest bis bombastisch. Mit Platten, Überhängen, Verschneidungen und einigen Bandquerungen wird einiges geboten. Jede Schlüsselseillänge hat ihre Eigenart. Die Standplätze sind allesamt super bequem. Vom Selamatt ist man in 1,5h am Einstieg, vom Gipfel noch schneller wieder am Auto. Und trotzdem klettert man auf der Südseite in spektakulärster Lage hoch über dem Walensee, mit den hohen Bergen von Silvretta, Bernina und den Glarner Alpen im Rücken.
Vielleicht der einzige persönliche Wehrmutstropfen ist die Absicherung. Ganz oft sind Bohrhaken an Stellen gesetzt, wo man problemlos auch mobil hätte absichern können. So kann man getrost alle Cams und Keile zuhause lassen. Das nimmt dieser klassischen Route etwas den ursprünglichen Charakter und macht auch die Orientierung zum Nobrainer. Aber jeder wie er’s mag.
Wir sind auf jeden Fall begeistert und auch ein wenig stolz, den Rotpunkt ins Tourenbuch eintragen zu können.
Steckbrief Zuestoll, Alte Südwand:
- Schwierigkeit: VII (1x und 3x VII-), VI obl.
- Absicherung: fast wie in der Halle (alpines Sportklettern)
- Schlosserei: reichlich (Alpin-) Exen reichen (ca. 12)
- Hoch / runter: Zu-/ Abstieg je 500hm, 14 Seillängen Kletterei auf 250m Wandhöhe