25.09.2021
Schon einmal war ich hier oben an der Albert-Heim-Hütte. Damals mit Simon und Julian. Gleiches Ziel, gleiche Jahreszeit – deutlich schlechtere Verhältnisse. Schneefall über Nacht. Abbruch noch bevor es überhaupt angefangen hat. Ganz anders war es dieses Mal. Es war eins dieser Berg-Wochenenden, an denen man sich schon fast aussuchen konnte, welche Tour man macht. Nach einiger Hin- und Her-Überlegerei, schwankend zwischen Watzman Ostwand (Salzburger Weg), Salbit Südgrat und Graue Wand, fiel die Wahl nach Sichtung der Webcams auf letzteren Megaklassiker im Furkagebiet.
Besonders gefreut hat mich die spontane Zusage von Fred, der sich dieses Alpin-Abenteuer nicht entgehen lassen wollte. Für ihn war es gleichzeitig die Premiere im Granit und in Sachen Selbstabsicherung („…wie geht das nochmal mit den Friends…da brauch ich einen Crashkurs…“).
Kaltstart nach durchwachsener Nacht morgens um halb 7. Der Knisterterror durch Thomas‘ Biwak-Plastikplane und die steifgefrorenen Gliedmaßen bei Fred (dünner Sommerschlafsack im Zelt) waren nach einem starken Mocca im Café Caddy schnell vergessen.
Von den Frühstartern, die während unseres Frühstücks mit Kopflampen an uns vorbeimarschiert sind, war nach 1,5 stündigem Zustieg oben an der Grauen Wand nix mehr zu sehen, bis auf eine Zweierseilschaft aus Island. Bevor es so richtig los ging wurde erst einmal gesucht. Wir 4 suchten wie im Rausch unterhalb des Wandfußes im Schutt nach Bergkristallen – die Isländer suchten den Routeneinstieg. Das weitestgehend abgeschmolzene Firnfeld machte Fred dann leider noch einen Strich durch seine Steigeisen-Premiere. Dafür gab’s von Thomas am Wandfuß Kurzschulungen in Sachen mobilem Sichern und Standplatzmanagement. Sollte sich alles auszahlen – denn Fred übernahm auch gleich den Vorstieg der 2. Seilschaft.
Die Route geht laut Topo direkt mal mit drei knackigen 6er-SL los, inklusive Crux. Sah von unten gar nicht so arg aus. Positiv geneigte Wand mit schönem Riss. Die Isländer hatten anfangs etwas Mühe, kamen dann aber gut voran.
1. SL (6-): Kommentar vom Isländer, als ich am 1. Standplatz zu ihm aufschließe: „very scatchy climbing“. Jepp! Mir wurde schon auf die ersten Meter klar, warum die in der Schweiz lebenden Jungs sich etwas schwer taten. Überraschend rundgriffige Rissstrukturen und relativ glatte Platten. Dazu auf 30m 2BH, 1NH, Rest (lange Runouts) selbst abzusichern. Die Eintrittskarte ist hiermit gelöst! Freddi geht auf Nummer sicher und lässt im Nachstieg für Fred meine Friends im Riss.
2. SL (6): Weiter den schräg nach links verlaufenden Riss hoch. In der Mitte der SL wird aus dem Riss eine abdrängende, offene Verschneidung mit kleinem Überhang. Erst reinquetschen, dann spreizend befreien und rauspiazen an Untergriffen. Schöne, steile Stelle!
3. SL (6+): Wieder super Kletterei in der (vermeintlichen) Schlüsselstelle. Ähnliche Situation wie in SL2 – abdrängende, seichte Verschneidung. Nur hier ohne offensichtliche Griffe und Tritte. Die Lösung: Chickenhead an Kante links antreten, perfekter Handklemmer in Riss überm Kopf mit links, Faustklemmer mit rechts direkt darüber und im Anschluss links raus schieben. Leider gibt es keine Bilder.
4. SL (5+): Das nächste Sahnestück – und leichter als es aussieht. Ein Dächlein wird von rechts angeklettert und an schräger Monsterschuppe auf Reibung stehend nach dem Satz des Piaz überwunden. Stand auf grasigem, bequemem Band.
5. SL (4+) + 6. SL (4-): In einem rechts-links Bogen hoch zum großen Grasband, vorbei an irrer Kristallhöhle (wo sind Hammer und Meißel???). Grasband nach links queren, über Blöcke zu Stand. Auch wieder keine Bilder leider.
7. SL (6-): Der „Ziegenrücken“ – eine der Knaller-Seillängen der Niedermann. An riesigen Schuppen klettert man tw. klemmend, mal piazend oder in die linke Wand rausspreizend eine senkrechte Traumverschneidung hoch. Am Ende sehr ausgesetzt nach links hangelnd zu einem Standplatz den man sich cooler nicht vorstellen kann. Wie in einem Adlerhorst thront man über der Wand.
8. SL (5+): Kurzes Intermezzo mit einer unangenehmen Stelle in glatter Verschneidung. Direkt danach links raus queren auf super bequemes Grasband mit Kristallhöhle (wo ist der Sprengstoff???).
9. SL (6): Zusammenreißen – jetzt wird’s nochmal zach! Erst steil aber gutgriffig über die Kristallhöhle hinweg. Kleines Zwischenband – und dann wird’s so richtig plattig und steil. Feine Risse durchziehen die Wand. Auf die ersten 10m 3BH, danach (wo es eigentlich schwer wird) nix! Außer einem unbrauchbaren Rosthaken mit verwester Gammelschlinge. Dafür oben raus im leichteren Gelände dann wieder ein BH unweit des Standes. Ahja (?).
10. SL (6): Hier will die Wand dem Aspiranten doch tatsächlich noch kurz vor Schluss den Rotpunkt versauen in einer stellenweise richtig hässlich zu kletternden Körperriss-Verschneidung. Schön V-förmig offen, rund und glatt. An dieser Stelle sei Hermann Buhl zitiert: „In derartigen Kaminen, die absolut nicht gefährlich sind, da man sich wie ein Keil darin verklammern kann, hört aber jede Technik auf. Es ist nichts anderes als eine wüste Schinderei“. Stimmt! Fred macht kurz dicke Backen, überlegt nach eigener Aussage sogar sich kurz ins Seil zu setzen – realisiert dann aber, dass die letzte Exe ca. 5m unter ihm baumelt – und zieht knallhart durch.
11. SL (5+): Highlight ist hier nicht die Kletterei, sondern der Moment, an dem man plötzlich unvermittelt den messerscharfen Grat gewinnt und auf der gegenüber liegenden Seite ins vergletscherte Granit-Wunderland von Dammastock und Sustenhorn hinunter schaut.
Auf der ausgesetzten Gipfelnadel ist gerade genügend Platz um zu viert mit Kippen und Schnaps zu feiern: den erfolgreichen, reibungslosen Durchstieg, eine traumhafte Klettertour (noch dazu eine Pause-ExtremFels) in einer gigantischen Kulisse, mitten auf dem Alpenhauptkamm, eine starke Truppe und für Fred und mich einen Rotpunkt im Buch! 😊
Spektakulär ist im Anschluss die lange Abseilfahrt über die Wand. Vorsicht ist allerdings geboten – es besteht die permanente Gefahr eines Seilhängers. Nicht nur am Fels, sondern auch an den Abseilbügeln (stehen unten raus) selbst. Lief bei uns aber glücklicher Weise alles reibungslos, bis auf die Verzweiflung, die jedes Mal ausbrach, beim Vorbeiseilen an einer der unzähligen Kristall-Klüfte. Also: Spitzhacke und Presslufthammer auf den Buckel schnallen – es lohnt sich!
Fazit:
- Zurecht als „Referenz des alpinen Kletterns“ bezeichnete Traumtour, die aber nicht unterschätzt werden darf (das Prädikat „plaisir“ ist relativ !)
- Über weite Strecken homogen-anspruchsvolle Kletterei
- Weite Teilabschnitte sind selbst abzusichern, was aber größtenteils gut geht
- Nach meinem Empfinden sind die BH tw. unlogisch platziert. An Stellen, wo daneben perfekt ein Friend Platz gefunden hätte oder erst oberhalb schwieriger Abschnitte in leichterem Gelände. Erstaunlich wenige NH (gesichtet)
- Verhältnismäßig einfache Routenfindung, auch wenn die Niedermann von etlichen Routen gekreuzt wird
- Super entspannte Standplätze
- Top eingerichtete Abseilpiste
Steckbrief Graue Wand, Niedermann:
- Schwierigkeit: VI+ (gefühlt mehrere Stellen), V+ bis VI anhaltend
- Absicherung: jeweils 2 BH an den Ständen, oftmals an schwierigen Stellen BH, ein Paar NH, Rest zwingend selbst abzusichern
- Hoch / runter: 500hm Zustieg, 450m Kletterei auf 11SL