19.07.2020 – 21.07.2020
Winterbegehung im Sommer
Zwei volle Tage hatte uns der Starkregen in Flachau gefangen gehalten und ließ uns vor der ersten Hochtour im Alpensommer 2020 im Hotelzimmer mit den Füßen scharren.
Als es dann endlich soweit war und wir uns per Gebirgstaxi zum Ende des langen Obersulzbachtals kutschen ließen, hüllten sich die Berge noch in dicken Nebel. Erst gegen Abend klarte es wie angekündigt auf und die Wolken wichen einer oberhalb von 2500m zugeschneiten Winterlandschaft.
Hübsch anzuschauen, aber ziemlich unpassend, wenn man einen langen, ausgesetzten Felsgrat zum Gipfel des weit und breit höchsten Berges klettern möchte.
Um den Zustieg zur Kürsingerhütte aufzuwerten, nahmen wir den Gletscherlehrpfad entlang des tosenden Obersulzbaches bis zum großen Gletschersee.
Nach und nach wurde die Sicht frei. Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn nun stand als kleines Highlight der Kürsinger-Klettersteig auf dem Programm in hochalpinem Ambiente. Nicht ganz lehrbuchkonform sicherten wir uns hier mit einem aus Bandschlingen improvisierten Klettersteigset ab.
Der Steig endet direkt unterhalb der Hütte – oder sollte man besser Hotel sagen?!
Phantastisch gelegen ist sie – diese Hochgebirgsbehausung – und bietet jeden hier oben nur erdenklichen Komfort, inkl. warmen Duschen. Dementsprechend gut besucht ist sie auch. Zählt der Normalweg doch zu einem der leichtesten Gletschertouren auf einen hohen 3000er.
Wir aber sind wegen des Nordgrats hier. Einer langen, wilden Kletterpartie in bestem Urgestein mit moderaten Schwierigkeiten – sofern die Verhältnisse ideal sind, wohlgemerkt.
Bei uns aber sah die Sache so aus:
Lange überlegte ich an diesem Abend hin und her – schaute immer wieder in die Glaskugel (Bierflasche). Der Stüdlgrat am Großglockner war bei unserer Begehung damals auch nicht wirklich sommerlich – und lief absolut reibungslos. Wir entschieden uns, den gesamten Nordgrat über den Zustieg via Meynow-Scharte abzukürzen. Erstens wegen der Zeiteinsparung und zweitens, weil der Grat bis dahin noch relativ unspektakulär dahingleitet. Insgeheim hoffte ich auf vor uns spurende Seilschaften und vielleicht doch weniger Neuschnee auf dem Grat als erwartet.
Bereits im Zustieg, am nächsten Morgen (Start 5:30 Uhr), wuchsen beim Blick durch die Telezoomkamera rüber zum steilen, letzten Aufschwung unterhalb des Gipfels die Bedenken.
Doch der Schnee war unten am Gletscher noch gut steifgefroren. Und tatsächlich – auf dem Weg zum Anfang des Grates sahen wir vier Bergsteiger.
Wir blieben bei unserem Plan, bogen vom ausgetrampelten Normalweg ab und zogen eine neue Spur rüber zur Meynow-Scharte, welche wir um 10:30 Uhr in mittlerweile praller Sonne erreichten.
Die Sonne knallte dermaßen in den windstillen Gletscherkessel, dass man meinen konnte, von einem Parabolspiegel gegrillt zu werden. Am Grat selbst ging dann immerhin ein wenig der Wind, aber die übertrieben hohen Temperaturen verwandelten Firn und Eis im Handumdrehen in ein ungemütliches Sorbet. Von der Vierer-Seilschaft war nix mehr zu sehen – der Nordgrat war ab hier unverspurt. Aus Trittfirn wurden zugematschte Felsplatten und aus bequem zu gehenden, schneegefüllten Spalten zwischen den Blöcken wurden Stolperfallen. Durch dieses Gelände legten wir im ersten steileren Aufschwung ab der Scharte einige Seillängen hin, bis sich der Grat wieder zurücklehnt.
Antje kämpfte mit den Verhältnissen. Wir hatten nun einen guten Einblick in die Schlüsselstelle: Eine plattige Passage im Grad IV. Im vertikalen Schneematsch. Das war mir dann doch zu heikel. Ein Rückzug wäre ab hier sehr aufwändig, daher: Abbruch! Ohne größere Probleme zurück in der Meynow-Scharte kam plötzlich die Vierer-Seilschaft ums Eck. Sie hatten für den normalerweise leichten Abschnitt bis hier her eine kleine Ewigkeit gebraucht. In kaum verständlichem Englisch fragte die osteuropäische Truppe nach dem Weiterweg. Ihnen war offenbar gar nicht klar, dass ihnen der mit Abstand schwierigste Teil noch bevorstand. Sie folgten letztendlich meinem Rat und stiegen nach einer langen Pause in unserer Spur ab, runter über den Normalweg.
Zu dem Zeitpunkt hatten Antje und ich in elender Stapferei, durch einen halben Meter hohen, komplett aufgeweichten Sulzschnee eine neue Spur gelegt: Aufsteigend zurück zum Normalweg, unterhalb der Bruchzone an der Venedigerscharte. Ohne Gipfelerfolg war Antje nicht bereit umzudrehen, also noch rauf zum Gipfel! Die letzten Seilschaften zogen im Abstieg an uns vorbei und bald hatten wir den extrem hoch frequentierten Großvenediger ganz für uns allein.
Die Hitze brachte Antje in der Zwischenzeit dazu, sich die Taschen voller Schnee zu stopfen und ihn auch zu essen, vor lauter Verzweiflung, die Körpertemperatur nicht wieder in den Griff zu bekommen. Ich zog mir fast alles aus und die Basecap auf den Kopf. Der Gipfelschnaps war dann zwecks Flüssigkeitsausgleich auch schon frühzeitig fällig und unsere Rucksäcke warfen wir auf den letzten 200 Höhenmetern ebenfalls ab.
Die Belohnung für unsere Mühen: einsame Gipfelfreud auf einem der höchsten Berge Österreichs!
Gibt Schlimmeres. Zum Beispiel der ewig lange Abstieg ohne Wasser. Immerhin gabs noch nen Schluck Zirbenschnaps.
Und die aller letzten Besucher des Tages hier oben waren wir dann doch nicht. Ein spanischer Sologeher kam uns entgegen und fragte keuchend, wie lange es noch sei. Grund zur Kurzatmigkeit hatte der Mann genug. Er war früh morgens gaaaaanz unten am Wanderparkplatz, ohne Gipfeltaxi, ohne Übernachtung, dafür mit schwerem Rucksack gestartet, steigt den ganzen ewig langen Weg bis zum Auto wieder ab und fährt danach noch 4h zurück nach Steyr. Muy loco! Starke Ausdauerleistung!
Uns reicht der Abstieg bis zur Hütte. Am Gletscherende saufen wir erstmal literweise Schmelzwasser.
Nach ziemlich zähen 13,5 Stunden (!) Gewaltmarsch, bei dem uns die Sonne gegrillt hat wie ein Hühnchen, das Hirn auf Rosinengröße zusammengeschrumpelt, kommen wir streichzart wie warme Margarine an der Villa Kürsinger an. Antjes Unterlippe ist dabei besonders knusprig. Noch am selben Abend fängt sie an, sich beleidigt aufzublasen. Fieberblasenalarm der übelsten Sorte. Da helfen auch Knoblauch, Pflaster und Beten nix mehr. Bis das Venedigerandenken verheilt ist, sollten noch ganze 4 Wochen vergehen – aber auf dem Gipfel standen wir trotzdem 😉
Nach reichlich Hüttenschmaus, Pivos, einer warmen Dusche und geruhsamen, langen Nacht ohne Wecker (was selten vorkommt auf Berghütten), steigen wir am nächsten Morgen ohne Eile ab und besuchen noch die nahegelegenen Krimmler Wasserfälle.
Kurze Mittagsrast auf dem Weg zum nächsten Abenteuer – Kopftörlgrat am Wilden Kaiser 🙂