21.05.2020 – 22.05.2020
Trilogie integral
Was tun, wenn die Landesgrenzen dicht, die Gondeln außer Betrieb und die deutschen Nordwände voller Sulzschnee sind? Man fährt zur Zugspitze!
Da wo sich in den Sommermonaten Hinz und Kunz auf den Schlappen stehen, trifft man zu Zeiten von Covid in den hochgelegenen Regionen des Wettersteins nur Gleichgesinnte und Verrückte, die sich verlaufen haben.
Das Ziel ist auch schnell gefunden: Der wilde Blassengrat soll‘s werden. Wird ihm doch nachgesagt er hätte im Gegensatz zu seiner deutlich bekannteren Verlängerung – dem Jubiläumsgrat – nichts an Wildheit in Form von jeder Menge Eisen verloren – und außerdem den besseren Fels und die interessanteren Kletterpassagen, noch dazu zum Selbstabsichern.
Im www wird der Blassengrat als großzügige Ganztagestour mit Gondelunterstützung und eventuellem Biwak unterhalb des Einstieges am hübschen Stuibensee beschrieben. Ohne Gondel wird der Anmarsch doch recht schweißtreibend – danach dann auch noch den ganzen Mist absteigen – nein danke! Dann doch lieber die Flucht nach vorne! Am besten bis ganz zum Anschlag – dem Zugspitzgipfel. Machen wir doch einfach die Trilogie – also den gesamten Ostgrat – keine halben Sachen! Toller Plan – gleichermaßen bescheuert wie reizvoll: Gaifgrat – Blassengrat – Jubigrat. Den langen Weg vom Olympiastadion bis zum Zugspitzgipfel in zwei Tagen. Dazwischen ein luftiges Biwak in der Schuhschachtel namens Jubigratbiwak – da is zurzeit ja nix los.
Pause hatten wir nach der langen Quarantäne eh genug… und hell ist’s auch 15 Stunden am Tag. Vielleicht sicherheitshalber nach der Anfahrt abends zumindest schon die ersten 500 Höhenmeter zusteigen und irgendwo an einer Alm am Bretterverschlag pennen.
Also nach der Arbeit auf nach Garmisch. Stellplatz im Wald – zusammen mit 1000 anderen Wildcampern (neues Hobby der Deutschen). Das Bier hat verhängnisvollerweise nach der Ankunft so gut geschmeckt, dass die Faulheit uns gleich mal einen Strich durch die Zustiegsrechnung gemacht hat. Wurscht…dann eben am nächsten Morgen umso früher aufstehen (ging auch schief). Letzten Endes starteten wir um 6:30 Uhr am Olympiastadion – mit „nur dem Nötigsten“ bepackt. Man kommt sich schon blöd vor, wenn man bei Bandschlingen und Keilen die Gewichte abwägt und sich dann aber zwei Überraschungsbierdosen für die Gutenacht-Stimmung im Biwak in die Tasche steckt. Prioritäten klar gesetzt!
Nach einer Weile die erste Überraschung: Die Ferse zwickt verdächtig – eine Blase! Herrlich! Nach einer lächerlichen Stunde Gehzeit! Selbst in Peru hatte ich in den gleichen Schuhen nach 4 Tagen keine Blasen! Kann ja heiter werden!
Immerhin – die Joggingeinheiten der Corona-Quarantäne machen sich bezahlt – bereits nach 3h30min sind die 1200 Höhenmeter und 10km Zustieg absolviert – wir stehen am Beginn des ewig langen Ostgrates, der hier anfangs Gaifgrat genannt wird. Es darf angesattelt werden – es warten diverse Abseilstellen.
Der Blick hinunter ins Reintal ist schon imposant, der Grat selbst wird es mit jedem Meter umso mehr.
Die Kletterschwierigkeiten liegen zwar maximal im oberen dritten Grad – jeder Fehler würde allerdings teuer bezahlt werden mit einem Freiflug entweder hinunter ins Grieskar oder zur Linken ins 1000m tiefere Reintal. Wer die ganze Distanz an einem Tag schaffen will, hat am Ostgrat keine Zeit am Seil zu klettern – maximal da wo es sein muss. Volle Konzentration und Sorgfalt bei jeder Bewegung sind essentiell – und das über 10h hinweg.
90 Minuten benötigen wir für den Gaifgrat – inklusive ansprechend luftiger Kletterstellen in gutem Fels und zweier eingerichteter Abseilstellen.
Eine perfekte Einstimmung auf das was nun folgt – der Blassengrat.
Auf dem Gipfel des Hohen Gaif kurz nen Riegel reingeschoben und weiter geht’s. Erst abklettern und ein paar III-Stellen wieder hoch bis nach einer Weile der Grat hinter einem Felsturm steil abbricht in eine Scharte, in welche man abseilt und per Spreizschritt die gegenüberliegende Wand erreicht.
Hinter der Abseil-Scharte schaut das Gestein im III-IV Grad zur Abwechslung etwas unzuverlässig aus, weshalb wir die Folgeseillänge am Seil klettern bis wir wieder den Grat gewinnen.
Das Seil wird direkt im Anschluss weggepackt und wir genießen Freiheit, Wetter, Aus-& Tiefblicke.
Unzählige Zwischengipfelchen und Türme müssen erklommen und wieder abgeklettert werden. Einen fingerähnlichen Riesenhinkelstein umgeht man südseitig im Gebrösel.
Der letzte große Aufschwung hoch zum Hochblassen zieht sich nochmal ordentlich, bietet aber auch wieder tolle Kletterpassagen.
Mit mehr als 2000 Höhenmetern in den Beinen und der stundenlangen Ausbalanciererei merkst eben langsam was du geleistet hast. Am letzten steilen Aufschwung wird noch einmal sicherheitshalber das Seil ausgepackt.
An der letzten kniffligen Stelle, da wo 2016 das schlimme Unglück zweier Bergsteiger passiert ist, machen wir keine halben Sachen und seilen ein letztes Mal nordseitig zu den Bändern ab.
Quellwolken haben uns mittlerweile eingehüllt, als wir ca. 17:15 Uhr den Gipfel des Hochblassen erreichen.
Kein Gipfelkreuz – kein Gipfelschnaps (das hat man nun vom Gewichtsmanagement).
Tatsächlich waren wir laut Gipfelbuch nach längerer Ruhe nicht die ersten hier oben, aber eine Winterbegehung scheint es nicht gegeben zu haben in dieser Saison.
Mit 11 Stunden Geh-/ Kletterzeit in den Beinen hätten wir uns theoretisch auch einfach an Ort und Stelle mit unserem Biwakzeugs in den Dreck legen können und trotzdem nicht schlecht geschlafen – aber die Aussicht auf ein solides Bettchen in der Biwakschachtel „in der Nähe“ rappelte uns nochmal auf. Tageslicht und Power hatten wir noch lange genug.
Im Abstieg runter zum Jubigrat geht’s zunächst über alte Stahlsprossen, Fixseile aus dem Mittelalter und eine grausige Steinschlagrinne – im Zickzack immer den Steinmännchen nach stehen wir bald auf einem breiten Grat im Nebel. Kurz verwechsel ich vor lauter Abstiegspirouetten Höllental mit Reintal, aber Tibis Kompass bringt uns wieder in die Spur und durch einen Spalt im Fels schlüpfen wir zur Einmündung des Abstiegsweges in den Jubiläumsgrat.
Wenn man auf der digitalen Karte nur weit genug rauszoomt erscheint die Biwakschachtel zum Greifen nahe. Weil Tibi und ich den Jubigrat beide schon einmal geklettert sind, sollten wir es eigentlich besser wissen… aber wir verdrängen die Tatsachen und vermuten hinter jedem der gefühlt 2000 Zwischentürme, die man erst hoch und dann wieder runterklettern muss, die rote Schachtel – vergeblich.
Hoch, runter, hoch, runter – den D-Klettersteig haben wir schon längst hinter uns gelassen – keine Schachtel in Sicht. Überhaupt – was ist los mit der Sicht? Es dämmert leicht und wir hängen in einer dicken Quellwolke und sehen reichlich wenig.
Nach Türmchen Nr. 2001 bin ich schon im Zombimodus und gehe davon aus, dass die Schachtel der Coronakrise zum Opfer gefallen ist und ins Tal geflogen wurde. Klettern wir eben noch en paar Stunden länger bis zum Münchner Haus auf dem Zugspitzgipfel – jetzt ist’s auch schon wurscht.
Just in diesem Moment seh ich urplötzlich hinter einer Klippe direkt vor mir ein rotes Objekt im tristen Grau: Halleluja – die Biwakschachtel!
Genauso überraschend purzeln kurz darauf zwei Bierdosen aus meinem großen Rucksack. Kann es etwas Schöneres geben nach 13,5 Stunden Gewalttour?
Im Biwak sind wir nicht allein – Ondra und Stanley aus Tschechien & der Slowakei sind den Alpspitz-Klettersteig hoch und haben es sich bereits gemütlich gemacht. Vier Personen auf 12 Betten verteilt. Zur Hauptsaison stapeln sich hier in der Regel die Bergsteiger und man hält es vor Gestank drinnen kaum aus.
Endlich Schuhe ausziehen und reichlich Schnee schmelzen. Zum Abendessen gibt’s Couscous mit Hühnchen und Reis vom Onkel Ben. Auch wenn man sich am liebsten duschen und die geschundenen Füße abhacken würde geht’s uns prächtig.
Unsere osteuropäischen Bergkameraden starten am nächsten Morgen bei herrlichem Wetter 15 Minuten vor uns. Wir hatten abends noch die möglichen Abstiegsoptionen besprochen und waren alle der Meinung, den Zugspitzgipfel unbedingt mit einplanen zu müssen.
Wie bei einem Wink des Schicksals hat die Höllentalangerhütte am Tag unserer Anreise per Mail darüber informiert, an diesem WE die Gastronomie wieder anzuschmeißen. Man konnte oben auf dem Grat die Käsespätzle und das Bier quasi schon riechen – die Hütte ist permanent 1000m unterhalb im Sichtfeld – wie ein Adler der um seine Beute kreist kamen wir uns vor. Wegen der Nassschneelawinen waren wir zunächst skeptisch, aber am Höllentalferner sahen wir Steigspuren und konnten auch Bergsteiger im Aufstieg ausmachen. Der obere Klettersteig in der ostseitigen Wand war weitestgehend schneefrei – also nix wie ab in den Biergarten!
Zum Jubigrat gibt es nicht viel zu erzählen – eh toll und landschaftlich reizvoll, aber wenn man ihn schon mal gemacht hat und vor allem wenn man ihn nach dem Blassengrat macht, hält sich die Begeisterung in Grenzen. Zu viel Eisen, zu viel Schutt, schlechtes Brösel / Beton-Fels – Verhältnis.
Nach 4h stehen wir ohne den normalerweise üblichen Rummel der Gondeltouris am ungewöhnlich einsamen Zugspitzgipfelkreuz. Bier und Wurscht schreien immer lauter aus dem Höllental hoch zu uns.
Ondra und Stanley kommen 2h nach uns an und legen noch eine weitere Biwaknacht in den Gemäuern des gipfelentstellenden Münchner Hauses ein, bevor sie auch durchs Höllental absteigen – dem Bierruf folgend. Als die beiden oben am Gipfel ankommen, sind Tibi und ich schon wie im Wahn den kompletten Klettersteig, den Gletscher und den Schrofenmist runtergesprungen zur Hütte.
Tibis Schuhe haben mittlerweile das Verhalten einer Brausetablette in Wasser angenommen.
A propos Schuhe: Die Trophäe des Highlights des Tages – wenn nicht sogar der gesamten Tour geht an diesen sympathischen Kerl hier:
Angetroffen bei seinem Rückzug aus den ersten senkrechten Klettersteigmetern an der Gletscherrandkluft fass ich mir an den Kopf beim Anblick seiner Schuhe. Er daraufhin selbstkritisch und vor Lachen krümmend: „…ja, ich weiß….sau dumm und total falsch ausgerüstet…“. 😀
Die nicht vorhandenen Steigeisen kompensierte er genialerweise durch eine Tennissocke, die er sich einfach über den Turnschuh gezogen hat: „Für mehr Grip…“. 😀
Aber die Vernunft ist dann doch der Neugierde gewichen und sie kehrten um zurück zur Hütte. War eh nie geplant zum Gipfel zu klettern, meinen die beiden. Später tranken wir noch gemeinsam ein Bier auf der urgemütlichen Höllentalangerhütte, während uns der Chef des Ladens reichlich Essen, das obligatorische Maß Bier und Storys der Vollprofis auftischte, die hier an den harten Wänden (Schwarze Wand) ihre Leistungsgrenzen verschieben. Am Ende hat uns Paypal dann noch davor bewahrt, Teller spülen zu müssen – danke Elon!
Zusammenfassung Gaifgrat & Blassengrat:
Wer ausgesetzte Gratkletterei liebt, absolut trittsicher ist, mit seilfreiem Klettern bis Grad III kein Problem hat und wenn doch, trotzdem zügig steigen und mit mobilen Sicherungsmitteln umgehen kann – der wird an diesem wildesten Teil des Zugspitz-Ostgrates in weitestgehend tollem Fels ein wahres Himmelsleiterfest feiern! Beim Anblick der Linie ist es kaum vorstellbar, dass die Kletterschwierigkeiten nie den oberen dritten Grad übersteigen, aber alle noch so zackig-luftigen Passagen lösen sich immer wieder überraschend in ansprechender Kletterei auf – vorausgesetzt man findet den richtigen Weg! 😉