Touren in Österreich

Freispitze (2884m), Schreck / Heel

08.-09.09.2023

Bergsport hat oft mit Verzicht zu tun. Auf das Nötigste beschränken kann ja auch Spaß machen. Nur wo fängt man da an und wo hört man auf?

Es gibt Leute, die schneiden sich die Pflegeetiketten aus den Klamotten, nur um sich auch dieses halbe Gramm zu sparen. Andere schauen ganz genau auf die Ausrüstung und lassen schon einmal den zweiten Karabiner oder die Steigeisen zuhaus, nur um sich im nächsten Moment freudestrahlend die Gipfel-Halbe in den Rucksack zu stecken. Und dann gibt es noch die Genussschlepper: Packen nach dem Motto „lieber haben als brauchen“.

Alles schon erlebt (auch bei mir selbst).

An der Freispitze versuchen Tobi, Timo und ich so eine Art Mittelding: Per Bike die vollgepackten Rucksäcke bis zum Ende der Straße, an der Materialseilbahn der Memminger Hütte schleppen und dort Schlemmen und Biersaufen bis die Schwarte kracht. Völlig unromantisch auf Bank und Betonplatte pennen, dafür aber ab dort am nächsten Morgen mit leichten Kletterrücksäcken weiter zum Berg. Ein genialer Plan!

Tobis Sack – größer als der vom Nikolaus.

Sogar eine Dose Radler hatte sich in Tobis Rucksack zwischen Suppengemüse, mehreren Messern und Gaskochern (ja – Plural), einem großen Flachmann und 9 (!) Dosen Bier versteckt. Die Kinderbrause haben wir dann aber um 21 Uhr fünf, in völliger Dunkelheit umherirrenden Holländern geschenkt, die uns fast die Füße dafür geküsst hätten.

Bierdepot.
Nüchtern legt man sich nun wirklich nicht auf eine Parkbank.

Nicht minder verstrahlt als unsere neuen Freunde aus dem verrückten Nachbarland stehen wir also um 6 Uhr morgens auf, renken uns das Kreuz ein und fangen wieder an zu Fressen. Kuchen steht auf dem Speiseplan, starker Kaffee (natürlich kein Instant sondern aus der schweren Edelstahl-Bialetti) und beinahe hätten wir uns auch noch die Thunfischdosen mit der vielversprechenden Aufschrift „Diamant“ reingepfiffen.

Zwischen Mäusen und Spinnen auf der Betonplatte – fast wie Urlaub.

Um 7 Uhr stapfen wir los. Zieht sich wie Kaugummi der Weg ganz hinten rein ins Tal. Aber schön ist er allemal. Überhaupt sind wir total begeistert von der Abgeschiedenheit dieses Lech-Seitentales. Ein traumhafter Spätsommertag kündigt sich an.

Im Anstieg Richtung Schafgufel sieht man plötzlich unvermittelt die wuchtige Südwand der Freispitze. Steht da inmitten grüner Almen einfach so im ansonsten bröseligen Mergelschrott rum. Eine geologische Besonderheit. Und stünde sie nicht gar so arg weit weg vom Schuss, würde es mich nicht wundern, wenn sich die Kletterer gegenseitig auf den Füßen stehen würden – so schön ist es hier.

Hotel Ziegenpeter – leider nicht buchbar.
Glasklare Quelle oberhalb der Schafgufel links von Pfad.
Tobi überlegt kurz das Schaf in seinen viel zu leichten Rucksack zu packen.
Im Kessel zwischen Heelzapfen links und Freispitze rechts.

Unterhalb des Heelzapfens, unter einem großen Felsblock (2 top Biwakplätze), machen wir Depot und legen erst ab (Gewicht) und dann wieder an (Klettersachen).

Der Routeneinstieg, eine markante Rampe, ist schnell ausgemacht (Bild oben, genau in der Mitte). Um 10 Uhr starten wir seilfrei (III) zum ersten Standplatz, unterhalb der Schlüsselseillänge. Ich übernehme den ersten Block mit den Seillängen 1-3.

SL1 (VII-): Direkt vom Start weg geht es zur Sache: Schräg nach rechts an guten Untergriffen am gelben Ausbruch vorbei, dann in die vertikale Wand. Der Fels ist super kompakt. Bei genauem Hinschauen sieht man kleine Trittnasen und scharfkantige Löcher und Leisten, welche geschickt kombiniert, bei guter Absicherung, kniffligen Klettergenuss der allerfeinsten Sorte ergeben. Im Zickzack steigt man höher bis zum Ende des Daches, wo eine Bilderbuch-Piazverschneidung zum bequemen Standplatz leitet. Insgesamt ein 40m-hohes Feuerwerk dieser Auftakt!

SL2 (V+): Geradeaus zieht eine senkrechte Rissschuppe hinauf – schaut super lecker aus – gehört aber leider der Route „Blinde Welt“. Die Schreck / Heel führt nicht minder hübsch, aber technisch leichter in einem Quergang nach rechts in eine Verschneidung, logisch der Schwachstelle der Wand folgend. Dort können die ersten Wasserrillen in die Zange genommen werden.

SL3 (IV-): Im Nachhinein betrachtet der einzige Ausreißer der Route. Gewöhnliche, unspektakuläre Verschneidungskletterei. Der Stand liegt etwas abseits links auf einem Absatz.

SL4 (IV+): Timo übernimmt. Eine riesige, wasserzerfressene Platte links der gelben Wand bietet rattenscharfe Kletterei. Die Absicherung lässt noch etwas Nervenkitzel zu, der geschlossene Fels gibt nur wenige Placements her.

Blick rüber in die Abstiegs-Schuttrinne (am tiefsten Punkt der Scharte runter)

SL5 (VI-): Definitiv eine der Knallerlängen, die Timo souverän durchsteigt. Der Absicherungscharakter bleibt der gleiche, die kleinen Griffe sind so scharf, dass es fast weh tut, die Kletterei ist für den Grad durchaus anspruchsvoll.

Rillen, Rillen, Rillen.

SL6 (IV+): Hier stellen wir fest, dass unser Seil laut Topo 10m zu kurz ist. Standbasteln ist angesagt. Deshalb schnapp ich mir wieder das scharfe Ende vom Seil. Das Gelände schaut wie so oft schwieriger aus, als es sich klettert, wenn man die richtige Linie erwischt (keine Haken). Auf den letzten 10m finde ich zwei Sanduhren und lege den #3er, sodass ein Zwischenstand nicht nötig wird.

SL7 (IV+): Nun ist Tobi an der Reihe: Vor uns liegt eine, wie aus Beton gegossene und mit dem Fräser zerfurchte Monsterplatte, die über ihre gesamte Breite erklommen werden kann. Solche Wasserrillen habe ich noch nie gesehen und schon gar nicht geklettert. Hinterschnittige Riesenzangen, wie bei Sinterkalk. Oft wird die raue Struktur angetreten und ausgespreizt. Macht mega Bock, aber geht brutal auf die ohnehin schon durch Südwandhitze und Anstrengung geschundenen Füße. Timo und ich klettern vor Freude jubelnd und gleichzeitig vor Schmerzen jauchzend nebeneinander her.

SL8 (V+): Nun wird der Wasserrillenturm erklommen. Es gäbe auch eine Direktvariante geradeaus hoch, Tobi nimmt den klassischen Weg durch die diagonale Verschneidungsrampe, welche zum höchsten Punkt des markanten Turmes leitet.

SL9&10 (V & V+): Lassen sich sinnvoll kombinieren und sind offenbar kürzer als im Panico-Topo angegeben. Am vorletzten Standplatz trifft unsere Route auf die von links kommende „Mistral“. Insgesamt sind diese letzten vier Seillängen sehr spärlich abgesichert, so dass man gerne und problemlos sein Pulver am Gurt verballern kann. Für Tobi in dieser alpinen Umgebung, so ganz ohne Haken, eine neue Erfahrung, die er souverän meistert. Die linke Abschlussverschneidung mit überhängendem Ausstieg sieht im ersten Moment für den Grad viel zu steil aus. Umso breiter wird das Grinsen, wenn man Meter um Meter die dicksten Henkel immer im richtigen Moment in die Hand bekommt. Ganz feiner Abschluss!

Blick zur benachbarten Roten Platte.
Blick zur Parseierspitze (links hinten): Nicht nur der höchste Berg der Lechtaler Alpen, sondern sogar der gesamten nördlichen Kalkalpen und gleichzeitig der einzige 3000er.

So haben wir uns in drei Blöcken die ganze Linie perfekt untereinander aufgeteilt, wobei jeder im Vorstieg Traumlängen par excellence genießen durfte.

Und endlich kann man aus den engen Kletterschuhen raus! Timo macht das dann auch mit so viel Freude, dass ihm beim Ausziehen beinahe der ganze Schlappen die Wand runterfliegt.

Nach 5,5h, etwas über der angepeilten Zeit, stehen wir auf dem oberen Mergelband. In einfacher Kletterei geht es seilfrei weiter, bis man horizontal queren kann, unterhalb des Gipfelaufbaus.

Blick zum Gipfelaufbau.
Während der Querung auf dem Mergelband.

Noch beim Rüberlaufen ist für mich der Gipfel, wie eigentlich immer, Pflichtprogramm. Aber beim gefühlt ewig weiten Blick nach oben schmerzen doch gleich wieder die geschundenen Füße und man denkt an den langen Abstieg. Außerdem knurrt der Magen und Tobi hat sicher den Rucksack voller Leckereien. So bin ich dann doch ganz froh als wir eine ausgedehnte Vesper-Pause vor der Abseilpiste beschließen. Wir schmeißen den Proviant auf die große Felsplatte auf der wir sitzen. Verhungern muss heut keiner. Abgerundet wird das Menü durch Tobis Zirben-(nurknappunterdem-)-Gipfelschnaps.

Prächtige Rundumsicht vom Vesper-Platz aus.

Die Abseilpiste ist mit einem Steinmann gut markiert. Weniger gut ist dann das Sammelsurium an teilweise richtig schrottigen Abseilständen auf dem Weg nach unten. Ein 60m-Seil würde hier mehr Spielraum verschaffen um sich die besten Stände rauszupicken. So gehen wir auf Nummer sicher und seilen insgesamt 4mal ab bis in die Scharte zum Mergelgrat. Beim Seilabziehen noch ein Schreckmoment, als sich aus heiterem Himmel ein schuhkartongroßer Brocken 4m über Tobi löst und neben ihm einschlägt.

Irgendwo in der Mitte der Abseilpiste, mit Blick auf den folgenden Mergelgrat und der wuchtigen Roten Platte – Westwand.

Vom Mergelgrat aus bietet sich ein wild-schöner Rundumblick zu den schroffen Gipfeln der Lechtaler Alpen und darüber hinaus. Wir sehen 2 (vermutlich) Kletterer beim Ausstieg aus der riesigen Westwand der Roten Platte. Von unten ertönt das tagesbegleitende Schaf-Gepblöke. Ansonsten sind wir alleine auf weiter Flur.

Die drei von der Tanke.

Nur irgendwie muss man ja von diesem Grat wieder runter kommen. Am sichersten geht das über die Abseilstelle am tiefsten Punkt – der Freispitzscharte. Sieht furchtbar bröselig aus die Mergelsteilwand. Geht aber so sicher und entspannt – auch dank Fixseil im Mittelteil.

Mühsam ists trotzdem. Am unteren Schuttkegel nimmt die Steilheit endlich ab und man bekommt einen prächtigen Blick rüber zu unserem Tageswerk – die Route in ihrer vollen Länge, bei tief stehender Sonne.

Nach einem ausgedehnten Trinkstopp an der Quelle rennen wir vom Bierdurscht getrieben wie blöd den Pfad hinunter, als wäre der Teufel hinter uns her – denn unten im Fluss warten drei eisgekühlte Dosen auf unsere Kehlen.

Die Bikes hat uns netterweise auch niemand geklaut, so dass ein phantastischer Bergtag, in bester Begleitung, nach einem halsbrecherischen 10km-Nachtrennen die Talstraße hinunter, sein Ende in der Pizzeria findet.

Alle Bilder von Tobi, Timo und mir 🙂

Steckbrief Freispitze, Schreck / Heel:

  • Schwierigkeit: VI+/VII- und VI-/V+ (je eine Länge), ansonsten größtenteils leichter
  • Absicherung: Cruxlänge sehr gut mit BH / Stichtbohrhaken abgesichert, in den leichteren Längen tw. kaum Haken
  • Schlosserei: Cams #0,3-3. Evtl. #3 doppelt. Auch ein #4 kam bei uns in den Rillen öfter zum Einsatz
  • Hoch, runter: 9,5km und 350hm radeln bis Materialseilbahn, ab dort ca. 1000hm bis Einstieg. 400m Kletterlänge auf 10 SL

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